: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Freitag, 22. August 2008

Die Fortschreibung der Geschichte

Mal ganz ohne Zynismus: Gestern war ich bei Dallmayr.

Ich halte hier kurz ein, denn nun werde ich etwas schreiben, was vielleicht härter klingt, als es gemeint ist, aber:

An der Schokoladentheke waren neben vielen Asiatinnen zwei Frauen, die gerade bedient wurden. Eine alte, schwerhörige Dame in rosabeigegrauem Kostüm, schlank und mit gewähltem Ausdruck, die genau wusste, was sie wollte, und der sie bedienenden Verkäuferin das Gefühl zu vermitteln wusste, dass ihr "Danke" ehrlich gemeint war. Und eine Frau Mitte 30, ungefähr doppelt so schwer, mausgraublond, grünes T-Shirt und mit einer Stimme wie die junge Angela Merkel, wenn sie gerade eine Abfuhr bekommen hat. Eine Frau, die die Verkäuferin quälend lang herumscheuchte und mit ihrem unhöflichen Benehmen hier nicht reinpasste. Ich weiss, es klingt nicht freundlich, jemandem aus Ostdeutschland ohne Manieren das anzuhängen, das "nicht reinpassen", es ist ein freies Land und jeder, der Geld hat, darf bei Dallmayr Pralinen kaufen, und ich schreibe es hier auch nur, weil sie mit ihrer selbst gestalteten "Ich zahle und schaffe an"-Attitüde nachdrücklich an den Tag legte, dass es ihr vollkommen egal war, was irgendjemand von ihr dachte.



Das hier ist der sogenannte Malerwinkel. In Rottach-Egern. Wer das hier länger liest, weiss, dass ich an Rottach nicht gerade mein Herz verloren habe; es ist so eine Art überteuertes und verunstaltetes St. Tropez des Tegernsees. Auch hier kann jeder kommen und bleiben, es ist keine Gated Community, auch wenn reduzierte Poldi-Habsburg-Janker (die heissen wirklich so) über 600 Euro kosten und ein banaler Zwetschgendatschi für 3 Euro das Stück verkauft (!) wird. Und obwohl ich Rottach nicht mag, ist es die Übersteigerung einer Sicherheit, die ich hier empfinde: Die Sicherheit, dass der alte Westen nicht tot ist und die Veränderungen durch den neuen Osten, das Ende des eisernen Vorhangs und der Entsozialstaatlichung der Globalisierung nicht überall durchgeschlagen haben. Rottach könnte Wirtschaftswunderdeutschland sein, oder auch das, was daraus 2008 geworden wäre, hätte es nicht die fundamentalen Änderungen der letzten zwei Jahrzehnte gegeben. In Rottach wirbt man im ersten Hotel noch mit dem Autogramm von Roberto Blanco, und Peter Alexander würde sicher noch die Sitzreihen vor dem Musikpavillon füllen. Rottach könnte als Freilichtzoo für eine Zukunft herhalten, die nie kam. Ich mag Rottach nicht, aber ich wohne nicht weit davon, ich kann hinfahren, mich darüber aufregen, und trotz allem wissen: Selbst dieser konsequent zu Ende gedachte und in unsere Zeit entwickelte Alte Westen mit all seinen Auswüchsen ist mit immer noch lieber als die Zukunft des Landes, die früher oder später die Provinz, München oder gar Holzkirchen erreichen wird.

Rottach ist fies, weil das Leben in einem konservierten Westen mit seinen türkisblauen Elektrobooten und E-Type-Aufläufen sich aus der Ungleichheit speist, die andernorts Arbeitslosigkeit und Hartz IV bedeuten. Die Gründerin von 9live wurde mehrfach gesehen, ohne dass jemand ordinär auf sie eingeschrien hätte, jetzt für eine Wanne voll Geld anzurufen. Der Zoo lebt von Renditen, die andere generieren, nur das erlaubt die Schlangenlederschuhe der Modegeschäftsbesitzer, ihre goldenen Reversos und die Cartiers für 8.990 im Kundenauftrag. Ich würde diese Form der Wohlstandsverwahllosung nicht wählen, aber das Kommende wird auch mir kaum eine Wahl lassen, und es erscheint mir besser, im Zweifelsfalle hier angespült zu werden als in der asozialen Zukunft, in der eine pdeudolinke Propaganda eine Mischung aus Staatsbescheissen und Auflösung von festen Arbeitsverhältnissen die wohlfeilen Strichjungen für neoliberale Abzocker bereitstellt, für die Zukunft der Bailouts und der ultrakurzen Inhalte ohne Hintergründe, die Zukunft, die man nicht mehr gestaltet, aber bechattet und verlinkt, ohne sie vorher genau gelesen zu haben.



Manchmal beschleicht auch mich trotz aller Erfahrung im Osten und den Niedergangsgebieten im Westen der Gedanke, dass es nur umkehrbar sein kann, wenn man persönlich den Ausgleich lebt, aber dann erinere ich mich an die von Nazis bespielte Fabrikruine in Neustadt/Orla, an die trostlosen Einkaufsmeilen in meiner Heimat und an die Inhalte der Glotze, die ich fast nur aus Erzählungen kenne, an Einrichtungskataloge mit Prozentbapperln, an die gelackten Neumünchner Jungsöders mit ihren Handyevents und die bildungsfernen Anjatanjas mit Osthintergrund und Karrierecoachkarriere, an diese Melange aus wirtschaftlicher Freiheit und geistigem Sklaventum. Die Prozesse, die uns dieses abgelöste Fleckchen Rottach und die abgelöste Bundesrepublik beschert haben, sind irreversibel, und die Keife bei Dallmayr ist da noch das allerkleinste Problem, zumal, wenn sie endlich, ohne einen schönen Tag zu wünschen, endlich still ihrer Wege geht, die die meinen nicht mehr kreuzen.

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Gleiches Lied, andere Besetzung

Heute mit Rosinenzopf als zuckerschwerer Basso Continuo unter den sanft gestrichenen Brezensemmeln.



Das Üble an der Krise ist, dass sie sich nicht nicht wie eine Krise anfühlt. Es dauert immer etwas, bis Krisen unten ankommen. Wenn sie dann mal unten angekommen sind, kann man oben schon nichts mehr daran ändern. Und die Schuldigen davonkommen lassen. IKB, um nur mal einen Fall anzusprechen. WestLB. BayernLB, und so weiter. Jemand wird das alles bezahlen, und die Frage ist nur, wer wieviel zahlt, und ob es dann noch für den Rosinenzopf reicht.

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Empfehlung heute - Lehman nach Asien verschleudern

Ich melde mich so gut wie nie irgendwo an. Ich habe keine Lust, bei irgendwas Mitglied zu sein, Ziel für Werbung zu werden oder Teil einer Gemeinschaft von Klickinkontinenten. Heute Nacht habe ich mich seit langer Zeit wieder bei einer Website angemeldet, und zwar bei der Financial Times - wegen dieses Berichts. Der besagt nicht weniger, als dass sich die Investmentbank Lehman Anfangs dieses Monats zur Hälfte an einen südkoreanischen oder chinesischen Staatsfonds verkaufen wollte. Beiden Fonds war der Kaufpreis - 50% über dem Buchwert - dann doch zu hoch. Und so muss Lehman weiter suchen, und man kann abwarten, wann der Buchwert nach immer neuen Abschreibungen Null erreicht - ich würde meinen, dass Lehman nach diesen Verzweiflungstaten spätestens bis Ende September etwas ganz Unschönes zustösst.



Wie man oben sieht, habe ich übrigens den Header gegen ein Bild ausgetauscht, das jemandem beim Verwalten seiner Edelmetallbesitztümer zeigt. Und nachdem Lehman auf dem Schmerzensweg nur vorankriecht, ist es gar nicht so dumm, sich an Beständigeres als an Bankaktien zu halten. Es muss sehr, sehr schlimm sein, wenn sich eine Firma wie Lehman zum asiatischen Sklaven macht. Schlimmer, als irgendjemand in den Banken bislang zuzugeben bereit ist.

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