: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Donnerstag, 6. Juni 2013

Katastrophen im Vergleich

Dass das Erdbeben schlimmer als die Flut ist, erkennt man schon daran, dass sich Menschen in der Flut weigern, die Häuser zu verlassen. Das macht beim Erdbeben niemand, es überkommt einen ab Richterstärke 4 ein derartig heftiges Übelkeitsgefühl angesichts von schwankender Architektur, dass man sofort rausrennt.

In San Benedetto war das so, plötzlich bildeten sich auf den Kaffeetassen kleine Wellen, und alle schwiegen und hielten die Luft an, bereit, nach draussen zu stürzen. In einem Ort - ich erzähle das erst jetzt, es ist ein Jahr her und damit verjährt - habe ich gesehen, wie Orangensaftkartons aus den Regalen gefallen sind, und dann sind alle raus raus raus man denkt da gar nichts anderes mehr, und der Geruch von aufgeplatztem Orangensaft bleibt im Kopf wie der Umstand, dass ich nicht vergesse, welche Schuhe es waren, die dann so geklebt haben.



Nun ist es ein Jahr später, ich sitze auf dem an sich sicheren Hochufer der Altstadt, und dennoch ist hier so viel Wasser im Boden, dass die Mauern im Erdgeschoss feucht sind. Die eigentliche Front ist aber draussen im Westviertel, wo der Fluss den grossen See einfach aufgefressen hat, und die Karpfen auf den Wiesen schwimmen, und damit das Eck, über das ich beu der FAZ so oft schreibe. Aber das alles weiss man, man kann damit rechnen, und die Flut lässt einem Zeit, das Richtige zu tun und nur Kämpfe zu führen, die man gewinnt. Verliert man ein Auto oder ein Haus, so behält man doch das Leben. Es geht nur um ein paar Meter Höhenunterschied, und man hat genug Zeit, sie zu überwinden, wenn man klug ist. Die Flut ist sowas wie eine Horde Besoffener nach dem Fussballspiel, man weiss, dass sie kommen und Schäden anrichten, und kann vorher unten die Tür ganz sicher zusperren und das Telefon aufladen, um die Polizei zu rufen. Es gibt eine Phase der Verunsicherung davor und eine Phase des Aufräumens danach.

Beim Erdbeben gibt es keine Vorwarnung. Auf dem Weg nach Mirandola dachte ich mir, na, da ist die Strasse aber schlecht, bis ich begriff; Die Strasse ist glatt. Unter mir bricht eine Scholle an der Naht zwischen den Kontinenten weg, Man ahnt es vorher einfach nicht. Ich habe die Sandgeysiere gesehen, die in Kellern und Garagen Hügel hinterliessen, und die man für unvorstellbar hält - so ein friedliches Land, wie soll da aus der Erde Sand spritzen? Man kann sich das alles nicht vorstellen, bis man es gesehen hat, und dann hofft man eben, dass es nicht gerade passiert, wenn man durch die Theaterruine von Quingentole steigt. Man gewöhnt sich an ein gewisses Grundrütteln und dennoch, die Wochen in Italien sind von der Erinnerung her so frisch, als wäre es heute gewesen. Ich würde das nicht als "Kick" bezeichnen und man sieht zu viel Schlimmes, als dass man es irgendwie als "positiv" empfinden könnte. Man geht rein und tut, was zu tun ist, aber es dauert Wochen und Monate, bis man damit wirklich fertig ist. Ich habe danach monatelang keine Konzerte mehr besuchen können. Das ist kein Treffen mit einem grölenden Mob, das ist das Wissen, dass da draussen ein Serienmörder herumläuft, und niemand kann sagen, wo und wie er zuschlägt, und wen es trifft.



Man kann eine Flut rationalisieren, man kann Ursachen suchen und Lehren ziehen. Eine Flut ist begreiflich. Sie gibt einem einen Eindruck von der arg begrenzten Grösse des Menschen. Sie ist ein Knacks für das Selbstbewusstsein und eine Aufforderung, sich nicht zu überschätzen.

Das Erdbeben ist nichts davon. Es ist masslos, es hat keine Relation, man kann nichts tun oder lernen oder verhindern oder begreiten. Es setzt einen auf Null.Man hat dort nicht umsonst ein Jahr abgewartet, ein ganzes Jahr, bis man mit den grossen Restaurierungen begonnen hat. Die Flut wird man längst vergessen habem, wenn das Erdbeben immer noch Folgen hat.

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