ma non troppo II: Fernado Sor, Seguidillas Boleras

Eine der reizvollsten Aufgaben der Kulturgeschichte könnte es sein, eine exemplarische Kulturgeschichte der kulturgeschichtlichen Missverständnisse und fehleinschätzungen zu schreiben. Das Problem ist allenfalls die Auswahl der schönsten Beispiele: Das Bild, das sich die Aufklärung von China machte, oder die Bilder, die man in Japan von europäischen Händlern herstellte? Das Mittelalter des verklärenden deutsche Historismus oder der verklärte amerikanische Futurismus der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts? Europas Sucht nach orientalischen Odalisken, deren Vorbilder aufgrund der gewünschten, üppigen Körperlichkeit dafür sicher nicht taugten, oder wiederum deren lächerliche Sucht nach europäischen Silbermünzen, weil der darauf abgebildete fette Ludwig XIV. mit seiner Perücke wiederum dem weiblichen Schönheitsideal entsprach?

Sublimierung nennt der Psychologe diesen Prozess, der in Krankheit ausartet. Seien es im Negativen die armen Würste, die wegen der Unerhörtheit ihrer Wünsche durch meine Bekannte Iris jahrelang, genauer bis zu ihrer Scheidung, die Kissen vollheulten, es dann nochmal - vergeblich - probierten und sich seitdem in unverbrüchlicher Treue und cretinöser Empörung an der Seite des gehörnten Ex-Gatten finden, oder aber im Positiven die wüste Sinnlichkeit, die man in Frankreich von Spaniern haben wollte: Legte Calderon de la Barca selbst noch ein paar verurteilenswerte Sünden in seine Theaterstücke, griffen über zwei Jahrhunderte Lesage, Voltaire, Diderot und Mérimée diese Legenden von Wollust und Leidenschaft auf und bastelten sich daraus das jeweils genehme Spanienbild, bis zum Höhepunkt unter Jan Graf Potozky, der Spaniens falschen Ruhm der Sinnlichkeit mit der schwül-erotische Handschrift von Saragossa für immer in die Geschichte der Missverständnisse eintrug.

Die Folge dieser Schriften war eine grosse musikalische Spanienmode, der wir den Barbier von Sevilla verdanken, die Carmen, den Troubadour, und, da sind wir auch schon beim Thema



den Barden Fernando Sor. Ich persönlich kann mit romantischer Liedsingerei einmal durch den Kontinent getrieben werden, und mag auch der von mir geschätzte Heine vertont worden sein: Niemals! Ich ertrage viel, aber Liederabende gehen gar nicht, Müllerin, Kindertotenlieder, Wesendonk und Forelle würde ich zusammen in den hellen Bach kippen und mit munterer Eil draufsteigen, bis das Gegurgle ein Ende hat.

Aber diesmal war es anders: Obige CD jedoch hörte ich, ohne zu wissen, was es ist, fand es aber sehr spanisch, sehr gittarös und catagnettiert, voller Schmelz und Timbre, süsseste spanische Weisen mit ganz, ganz leichten Männerchoranleihen - aber nicht der gekünstelte Männerchor der Romantik a la castrata, keinerlei Tenoreunchen, sondern eher der lauschige Gesangsverein, den Tucholski singen liess:

"Wenn die Igel in der Abendstunde
still nach ihren Mäusen gehn,
hing auch ich an Deinem Munde
und es war um mich geschehen."

Kurz, auch ich bin, wenn ich das Booklet der CD nicht lese, empfänglich für Missverständnisse. Denn Fernando Sor war durchaus Spanier, aber einer der eher ungewöhnlich aufgeklärten Sorte: 1778 in Barcelona geboren, schloss er sich während der Revolutionskriege der napoleonischen Seite an, übernahm ein Amt und musste 1813 Spanien für immer verlassen. Aber in Erinnerung an Barcelona erfand er spanisch anmutende Lieder für Solisten, Gitarre und kleine Ensembles, die mit ihrer Thematik - man ahnt es, Verehrung, Liebe, Beschlaf und wollüstigen Tod - auch dem reaktionärsten Biedemeier erlaubten, im Salon den spanischen Stier rauszulassen. So, wie heute für die Freundinnen das, was auf Malle passierte, Urlaub war und deshalb nicht zählte, konnte man sich damals mit Sors Liedern Extravaganzen erlauben, für die man anderweitig einen Tritt bis zum Brunnen vor dem Tore erhalten hätte. Deshalb klingt es auch so, wie soll ich sagen, na, ganz anders als das, was man sonst aus der Gattung Kunstlied kennt. Verfeinerte, raffinierte Volksmusik, die nur den einen Zweck kennt - nach der Gitarre das Strumpfband zu zupfen.

Fernado Sor, Seguidillas Boleras, brilliant gesungen und eingespielt von Xavier Diaz-Latorre (allein schon der Name!) und Laberintos Ingeniosos, erschienen bei Zig-Zag.

Sonntag, 17. Februar 2008, 18:29, von donalphons | |comment

 
(bedaure, dass es etwas länger gedauert hat, mit der Fortsetzung. Eigentlich war die Serie auch als Lückenfüller gedacht, wenn es gerade nichts öffentlich zu erzählen gibt, aber das it wohl eher selten der Fall)

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Nachdem ich heute den halben Arbeitstag über mit Eichendorffischen Wanderliedervertonungen gequält wurde, in denen weite Täler und hohe Höhen angeseufzt werden und ich ungefähr hundertmal zustimmen mußte, wie toll das die jungen Leute von der Hochschule doch gemacht haben, danke ich für das äußerst passende Romantikbashing. Das hab ich gerade gebraucht.

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sehr wunderbar - vielen dank!

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Gern geschehen
Liedkunst ist jaul- und schleimtechnisch sowas wie Trigami 0.92 Beta, da weiss ich, wie es geht.

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lol! mir würden auch noch etliche andere dinge einfallen, die du "jaul- und schleimtechnisch" beherrscht, aber dazu schweige ich geflissentlich. statt dessen sollte ich mehr in mein eigenes blog schreiben, rein mal schleimtechnisch gesehen. "qualitätsbloggen" ist ein thema. aber ich freue mich über _dein_ qualitätsbloggen genauso sehr, und dieser beitrag gehört m.e. dazu.

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Du hast das heutige Tortenbild noch nicht gesehen :-)

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her mit!:) ich habe ja immer hunger auf torte. (also, zumindest einmal im monat.)

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Ich höre Lieder sehr gern - dafür kann man mich mit klassischer Gitarrenmusik jagen. Kommt bei mir ziemlich bald nach Renaissance-Musik. Grauselig.

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