15 Jahre voraus

Dass man 40 wird, sagte einmal ein Freund, merkt man daran, dass man jeden Tag Medikamente braucht. Damals war es bei mir noch nicht so weit, und es ist auch heute noch nicht so schlimm gekommen. Nur heute ist es schlecht. In der Nacht ordentlich verlegen, Stechen im Armgelenk und Verspannung im Nacken, eine immer noch latent vorhandeme Grippe und ein kleiner Schub Heuschnupfen - macht 3 Tabletten und eine Salbe. Wie ein alter Mann. Dazu noch drei bis vier Windstärken aus dem Westen und nicht gerade Hitze - so wird sich das also in der Regel anfühlen, wenn ich 15, 20 Jahre älter und schwächer bin. Zur Komplettierung der Zeitreise nehme ich auch noch ein Rad, das 24 Jahre auf dem Buckel hat. So wird es dann sein, im Sommer 2027.







Das Elend beginnt schon an der Haustür: Irgendein *** hat in der Nacht dem Weinstock einen Ast abgebrochen und die Trauben auf dem Boden zertreten. Ich habe wirklich nichts gegen junge Menschen, aber wer das tut, dem möchte ich im Dunkeln begegnen. Von hinten, mit einem frisch geschnitteten Eichenstock. Ein jeder mache die Erfahrung mit Holz, die er verdiene. Ob es so einem Stück Abschaum auch gefällt, würde man ihm den Finger brechen? Ich weiss es nicht. Es käme auf den Versuch an. 2027 wird das vermutlich eher die Regel als die Ausnahme sein. Für manche ist es vielleicht nur ein Baum, aber wer hier lebt, der liebt seinen Weinstock. Der Weinstock überlebt Generationen, und es würde mich auch nicht stören, wenn er aussterbende Clans von Weinstockschändern überleben würde. Was sich alte Männer eben so sagen. Die Zeiten, da ich Videoüberwachung im öffentlichen Raum vollkommen falsch fand, sind heute schon lange vorbei.







Man freut sich im Alter ja auch schon an den kleinen Dingen. Eine Easyjet-Phase hatte ich nie, Europa reicht mir völlig, und nachdem das hier auch Ferienregion ist, sobald man die Stadt hinter sich gelassen hat, geniesse ich das eben wie Urlaub. Das waren in den letzten Generationen schon die sonntäglichen Ausflugsziele, das hat keinem geschadet. Es ist keine Kunst, das Neue in der Fremde zu finden. Hier muss man eben genauer hinschauen. Und ich glaube nicht, dass ich 2027 noch werde eine Easyjet-Phase bekommen können: Die Zeiten, da man mit dem Eintritt ins Rentenalter die Fernreisen entdeckte, werden vorbei sein. Einerseits, weil dann das Rentenalter noch weit weg ist. Andererseits, weil man sich wird entscheiden müssen, zwischen grosser Mobilität und anderen luxuriösen Freuden. Und dann werde ich sicher nicht mein Geld in einer Turbine verbrennen. Ich habe ja genug Räder und hoffentlich genug Kraft.







Sicher, die Kiste ist nicht neu, aber sie fährt, und das gar nicht so schlecht. Sicher, der Wind bläst heftig, aber das hier ist nicht die Tour de France. Mit etwas Glück habe ich dann auch noch Zeit, und wenn ich am Tag 80 Kilometer schaffe - das sollte eigentlich kein Problem sein - dann ist das ein ganz schöner Radius. Zur Not komme ich so auch an den Tegernsee, nach Innsbruck, nach Sterzing (gut, das wird über den Brenner nicht ganz leicht, vielleicht nehme ich da einen Postbus, falls es dann noch solche sozialen Einrichtungen gibt) und von dort aus, von Pension zu Pension, bis nach - nun, das wird man dann sehen. Ich glaube nicht, dass es die Reisefreizügigkeit ohne Überwachung, wie wir sie heute noch erfahren können, dann noch gibt - man denke nur an das Elend, wenn man in Italien ins Internet will. Nichts werden sie einen wissen lassen, aber alles erfahren: Der Transponder in jedem Gefährt wird kommen, in jedem Handy, in jeder Uhr, in jedem elektronisch gesteuerten Rad - wer dann vollmechanisch unterwegs ist, muss sich dann weniger Sorgen machen.







Nur bin ich dann schon an der Schwelle eines Alters, in dem man, um es mit einer italienischen Weisheit zu sagen, nur noch Angst hat, lange zu leben. Ich sehe das heute auch als Vorsorge an, was ich mir an körperlichen Eigenschaften im steifen Gegenwind erhalte, allen Zipperlein zum Trotz, wird dann besser sein als eine Krankheit, deren Reparatur sich nicht bezahlen lässt. Das ist gar nicht so schlimm, der Mensch, denke ich mir, hat ein Recht, zum richtigen Zeitpunkt zu sterben, und was hilft es mir, wenn es nach hinten hinaus teuer verlängert wird: Jetzt müsste man das noch haben, oder eben 30 oder 15 Jahre vorher. All die teuren Damenkleider, sie enden schon heute nicht an der Jugend, sondern an mit schlimmen Methoden dürr gehaltenen Frauen, denen das Leben nur noch wenig verspricht. Bei den Männern entzerrt sich das ein wenig, aber es wird letztlich nicht anders sein. Generation der Erben, pah, wenn ich das schon höre, allein die Generation der Frühüberschriebenen, die kann etwas davon haben. Wer erbt, braucht es doch heute schon gar nicht mehr, und das wird dann auch nicht anders sein. Das Leben ist dann weitgehend vorbei.







Aber wenigstens, all das Unkomfortabe, Ziehende und Schmerzende mit eingerechnet und vorangedacht: Es geht schon noch was, das Rad kämpft und fliegt mit Rückenwind nach Hause, den Himmel und die Landschaft wird einem keiner nehmen, und wir haben hier so viel überlebt - wir werden auch das überstehen, egal was kommt. Nett wäre es, wenn die Kriminellen des Libor bis in 15 Jahren noch im Gefängnis wären, wo sie gut aufgeräumt sind. Dann wäre das alles gleich etwas schöner und gerechter. Ich finde, man kann Kronzeugen wirklich netter behandeln, man muss sie ja nicht in Öl kochen, lebenslang reicht wie bei anderer organisierter Kriminalität auch. Das gehört zum Altern dazu, das Rufen nach mehr Gesetzen, aber vielleicht ist es ja auch richtig so, wie vieles andere.

Montag, 16. Juli 2012, 00:56, von donalphons | |comment

 
In einem Kapitel bei Don Camillo werden Rebstöcke abgeschnitten. Das war dann das allerschlimmste Verbrechen!
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Eichenknüppel hat er auch sehr gerne verwandt!

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Es kann nicht falsch sein, davon zu lernen. Vielleicht radle ich heute in den Eichenwald.

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Gehört es zum Altern auch dazu ständig auf den Jungen herumzuhacken? Der Ast vom Weinstock könnte durchaus auch von der älteren Generation herabgerissen worden sein. Haben Sie es gesehen?

Altern ohne ständig auf der jungen Generation herumzuhacken, das nenne ich in Würde altern!

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Ich mache da eine Videokamera hin, und wenn ich das Bild habe, miete ich mir einen stämmigen Ukrainer, egal ob alt oder jung. Würde ist mir egal, solange es nur richtig eingeht.

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Sie sind aber heute grantig!
Welche Laus war es?

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Die Reblaus wahrscheinlich.

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Bei meinem Weinstock kenne ich keine Gnade.

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Don, keltern Sie wenigstens... für wen auch immer?

@ sephor
*infantilkicher*

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Ich kann mir nicht helfen, ich sehe vor mir Methusalix, mit Schrotflinte, auf einem Schaukelstuhl auf der Dachterrasse, eingehüllt in eine Wolldecke, ...

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Ich dachte eher an ein Notebook, auf dem Deathwish öäuft. Alle fünf Folgen.

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es ist nicht unbedingt der schlechteste weg, die zukunft ein wenig vorweg zu nehmen.

ich stimme ihnen, lieber don, unbedingt zu, dass die freizügigkeit sehr eingeschränkt sein wird, sei es durch tatsächliche oder vorgebliche knappheiten; die kontrolle, pardon, die kundenfreundlichkeit, wird sicher nicht gering ausfallen.

insofern tut man gut daran, im hier und jetzt einerseits vorzusorgen, also ranzen, wampen und dergleichen schwächlichkeiten, die weiter schwächten, zu vermeiden, und andererseits das heute nach kräften auszukosten.

meine wenigkeit jagt durchaus mit 200 sachen über wenig befahrene bahnen, solange es noch geht, und ganz böse nahrungsmittel werden auch noch bar bezahlt, was vielleicht irgendwann einmal nicht mehr gehen wird. der sport kommt sicher ebenso nicht zu kurz.

oder es wird ein lebenslustiges söhnchen zum csd begleitet, damit er sich das spektakel in seinem jugendlichen überschwang einmal ansehe.

gefreut hat er sich über die lederschwulen auf dem viktualienmarkt (v übrigens wie f gesprochen, der treuherzig dreinblickende schlingel...).

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Und ich dachte schon, apokalyptische Visionen seien nur meine ureigenste Spezialität. Dabei spezifiziere ich nur genauer - bezugnehmend auf Demographiedetails- wer genau ab 2027 die wirklichen Probleme bereiten wird. Die Jugend macht dann Politik, und diese Jugend wird keine einzelnen Weinstöcke zerstören, sondern den Alkohol an sich verbieten. Demographiebedingt kommt das im Osten erst 20 Jahre später, und dann bin ich mal weg, garantiert für immer.

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