Giftschrank

Eifrige Besucher echter Antiquariate - also nicht irgendwelcher Ramschpalettenverkäufer - kennen das vielleicht: Ich komme, oft an einem glasig kalten Wintermorgen, in eines dieser leicht verstaubten Geschäfte in der Maxvorstadt, und der Besitzer, Berater, Verkäufer und Ordnungshasser in Personalunion hat gerade wieder frische Umzugskartons gebracht, voll mit Büchern aus Wohnungsauflösungen. Da sind die Bibliotheken noch im Urzustand, vielleicht über 2, 3 Generationen zusammengeerbt, mit unterschiedslos allem, was man früher gelesen hat in den besseren Kreisen: Kein Brecht, kaum Heine, aber dafür Wagners Wesendonkbriefe, Gustav Frenssen, der Bestseller Wilhelm Raabe, und von da an geht es hinab in die Niederungen dessen, was heute noch gute Preise erzielt - die Rosenbergs und ähnliche Volkstumsbewahrer finden immer noch ihre alten und neuen Liebhaber.

Erzähle mir keiner, dass man sich die Herrschaften erzwungenerweise in die Bücherschränke gepackt hat. Desto dümmer, desto gemeiner und marktschreierischer, desto lieber wurde das braune Dreck gekauft und gehortet, so dass er auch noch jahrzehnte später intakt in den Antiquariaten ankommt, laut Exlibris oder Besitzervermerk gekauft von der Funktionselite des Landes; Professoren, leitende Angestellte, über gar nicht so wenige findet man heute im Internet noch Spuren dessen, was sie dann später in Feldgrau oder SS-Schwarz taten.



Bunt statt halbledern, modern typographiert und dennoch nicht differenzierter in Inhalt und Ideologie, stehen sie heute wieder Seit an Seit in den Flughafenbuchhandlungen und warten auf die gelangweilte Elite, die sich beim Business-City-Hopping mentalitätsmässig auf den neuesten Stand bringen will. Hier ist demokratisches Ausnahmegebiet, hier triumphiert der Starke qua Definition über den Schwachen, man schreit nach Revolution und fetten Würsten für die Elite, nach einem Ende des Mitleids und dem Anbruch eines neuen Systems. Die neuen Parteibücher geben Aufschluss über den richtigen Weg, beim Lesen so wenig herausfordernd wie die Mao-Bibel, so einfach wie alles, was meint recht haben zu müssen, egal wie komplex die Realität ist, die es unterzupflügen gilt, schon im Executive Summary, das früher vielleicht Parole hiess. Das Blabla-Prinzip, die Kotzbrech-Methode, der endgültige Drecksack in 100 Tagen, 10 Millionen in 10 Schritten, Small talk for jerks, Career für mobbende Sachbearbeiter, Power Business Success Awareness Strategy 4 complete assholes in emerging improved markets like web2.0.

Es sind die Bücher, von denen man hofft, dass sie aus der Gutenberg-Galaxis hinausgeschleudert werden in die schwarzen Löcher der E-Books und ihrer DRMs und ever changing Format which means you can buy the shit again each time you get one of those brand new fuzzy reading gadgets, auf dass in Zukunft die Antiquariate nicht versaut werden durch diesen Dreck, der vielleicht die wirtschftlichen Entscheidungen, nicht aber den Geist dieser Epoche bestimmt.

Sonntag, 29. Januar 2006, 22:42, von donalphons | |comment

 
Viele Ergüsse von prominenten-, semi-prominenten- und Ex-Politikern würde man auch gerne ins schwarze Loch verschwinden sehen.

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ich denke nicht, dass die Halbwertzeit solcher Erguesse ueber den naechsten Umzug hinweg dauert. Dann sieht man das Zeuch in der Papiertonne.

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Das ist genau der Typ, dem jede Form von Mülltrennung a priori zu gutmenschig ist.

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Immerhin
haben sie eine gewisse Ahnung von der Schwachheit ihrer Elaborate, dass sie nicht einmal andeutungsweise auf die Idee verfallen, solche Werke in Leder zu binden oder diesen einen Hauch von Beständigkeit zu verleihen.

Sie haben recht damit.

Deppen aus Übersee folgend, oder sogar in schwafeliger Ayn-Rand-Diktion, begreifen sie Freiheit und Gesellschaft vor allem im Sinne eines kapitalistischen Nachtwächterstaates, welcher ihrer Gier gewidmet ist - und sie meinen mit ihren quitschbunt gestalteten Taschenbüchern, sie hätten etwas Modernes oder sogar Fortschrittliches anzubieten.

Sie haben unrecht damit.

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Diese Betrachtung ist der in mancher Situation verhafteten Schamhaftigkeit ob meines relativ uebersichtlichen Buecherbestandes geschuldet. Diese verwischt wiederkehrend genau dann, wenn ich bei derartigen Umzuegen zugegen bin und das Elend ehemals mit Stolz erworbener Machwerke o.g. Art verfolgen kann. Nach einem verneinten "Willst Du sowas?" ist das der Weg alles darin geschriebenen.

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Also, in den Antiquariaten, die ich so kenne, finden sich vielleicht Rabindranath Tagore, Sir Walter Scott oder Goethe in Leder mit Goldrand, und daneben Brecht, Elliot, Conrad oder Traven als Paperback. In den Bahnhofsbuchhandlungen gehe ich an den genannten Drecksbänden für Manager immer gezielt vorbei zur Science-fiction&Fantasy-Ecke.

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Uh-oh, gerade Göthen kann man aber auch so seine Neigungen nachsagen - in den Gesprächen mit Meyer rastet er genau einmal aus, und da erfährt er, dass in Weimer die Juden gewisse Rechte erhalten sollen - und was spät in Marienbad geschah, wäre heute wohl kaum unter dem Deckmantel der Kultur zu beschönigen.

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Ja, und das Gretchen als literarische Figur erfinden und realiter eine Abtreiberin gegen massiven Protest der Bevölkerung hinrichten lassen, ich weiß. Es ging mir nicht um die gesellschaftliche Tendenz der vorgefundenen Literatur, sondern um ihre autorenmäßige Zusammensetzung. Bei den Dingen, die Du beschreibst, wundert mich immer wieder, was in Bayern (oder auch Berlin) alles anders ist als in dem mir vertrauten Nordwestdeutschland.

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München, so hört man, sei mitunter vielleicht doch ein besseres Pflaster für dergleichen Literatur gewesen als ansonsten angenommen - nicht umsonst sass AHs Verleger in München.

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München war Lehmann-Land, nicht zufällig.

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w. raabe ein bestsellerautor? war das nicht der, der mit seiner frau im villenviertel spazierengehenderweise auf eines dieser bauwerke zeigte, und sagte, das könntest du haben, wenn ich wollte. ich will aber nicht.

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Genau der. Heute weitgehend vergessen, damals aber eine ganz grosse Nummer mit guten Aissichten, später in einer Reihe mit Göthe genannt zu werden. Bismarcks liebling und der Spiesser Freund, die letzte Blüte und Wertschätzung endete aber 1945 abrupt. was nicht wirklich ein Verlust für die deutsche Literaturgeschichte ist.

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heute weitgehend vergessen. na ja, vergessen, da gab es mal einen in der heide, der lebte davon, die biografien der vergessenen für den funk zu bearbeiten. von einem raabe-essay von arno schmidt ist mir nichts bekannt, schade eigentlich. von fuld gibt es neuerdings eine raabe-biografie. die habe ich gelesen, sie hat mir auch gefallen, nur habe ich sie wieder vergessen.

nun, bismarcks liebling oder nicht, pfisters mühle ist der erste deutsche roman, der die umweltverschmutzung thematisiert. weiter fällt bei raabe auf, dass seine protagonisten gern einen bruch in der biografie, einen knick in der karriere haben. das macht ihn eigentlich eher aktuell - zugegeben, er schreibt schon etwas hm, beim film würde man von sehr langsamer kameraführung sprechen.

es gab da einen, der das es-ist-erreicht bürgertum der epoche bismarcks begeisterte und dem kaufmann die höheren weihen eines kulturträgers verlieh: gustav freytag. der allerdings wurde eher verdrängt als vergessen, dieser spiegel reflektiert noch zu deutlich.

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Wir haben den in der Schule gelesen (Der Hungerkünstler), für mich war das eher Spätbiedermeier-Langweilerliteratur. So die Richtung: Man schreibt Erbauliches über Käuze und Sonderlinge, um der gesellschaftlichen Realität nichts ins Auge schauen zu müssen.

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Wie erbärmlich, das alles, verglichen mit Frankreich!

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oha, der hungerpastor als schullektüre. den schätze ich doch mal auf so 500 seiten. der deutschlehrer war wohl eine geniale kombination eines literarischen sado-masochisten. kein wunder, dass da keine freude aufkommt, wenn der name genannt wird.

raabe auf die stufe eines literarischen langweilers zu drücken, der allerhand erbauliches über sonderbare leute von sich gibt, wird ihm wohl nicht gerecht. immerhin stand raabe auf der seite der kleinen leute, nicht unbedingt selbstverständlich, gerade in deutschland.

wenn ich aber che´s rasiermesser "der gesellschaftlichen wirklichkeit ins auge sehen" auf die literarische produktion deutschlands der letzten zehn jahre ansetze - was bleibt dann?

eben.

genau, kein vergleich mit frankreich. solange wir eben nicht so viele erstklassigen dichter haben, können wir es uns schlicht nicht leisten, auf schriftsteller unterhalb des klassiker (tm) status bzw. che´s robuster burschen, die dem klassenfeind ruhig ins auge sehen, im bewusstsein, dessen töchter jederzeit zu allerhand allotria verführen zu können, herabzusehen.

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