Am Sonntag wollen sie den Süssen verramschen gehn

Mitte der 80er Jahre hat ein Antiquariat in Schwabing eine Sammlung von historischen, handkolorierten Pflanzen- und Kräuterbüchern vom XVI. bis XVIII. Jahrhundert erworben und zerlegt. Das ist einerseits ein Verbrechen am Buch, andererseits aber gab der Markt dem Antiquariat recht: Die Kräuterholzschnitte und Kupeferdrucke erhielten sehr feine Rahmen mit bräunlichen Farbtönen und Blattgoldauflage, ein Bapperl des Antiquariats und atemberaubende Preisschilder. Dennoch entwickelten sich diese Bilder zum Verkaufsschlager und beliebten Geschenk dessen, was man schon damals kaum mehr als bessere Gesellschaft bezeichnen konnte; eine Weile konnte man kaum in eine Grünwalder Küche gehen, ohne nicht ein paar dieser Bilder zu sehen, die perfekt zu den damals noch modernen, rustikalen Küchen passten.

Doch der Geschmack ändert sich, und die, die sich dergleichen vor 20 Jahren leisteten, ziehen um in die Seniorenresidenz, oder gleich auf den Friedhof. Seit ungefähr drei Jahren finde ich diese Stiche mit den charakteristischen Rahmen und Bapperl auf den Flohmärkten der Region München, und zu mitunter so günstigen Preisen, dass ich mir im letzten Jahr 10 Stück für meine Küche gekauft habe. Gestern nun fand ich das elfte Exemplar, eine Glockenblume auf dem Bild unten rechts, die den Besitzer nicht mehr gegen Halsleiden schützen konnte, denn sie stammt aus einem Nachlass.



Es war kalt, regnerisch, und ich war in Eile, und als der Verkäufer meinte, er hätte da auch noch ein paar Rahmen aus der gleichen Quelle, die ich für einen Euro das Stück haben könnte, griff ich zu, ohne genau hinzuschauen. Gold, verziert mit Messingbeschlägen an der Ecke, intakte Gläser, kann man immer brauchen, zumal sie identisch sind. Man muss nur die alten Photos herausnehmen und kann sie für Drucke verwenden. Dachte ich, bis ich mir die Bilder genauer anschaute. Und das lässt mich fassungslos zurück. Denn ich kann irgendwo nachvollziehen, dass Druckgraphik des XVIII. Jahrhunderts nicht jedermanns Sache ist. Ich kann verstehen, dass manche den Wert dieser Stücke nicht kennen und es einfach so weggeben, weil sie damit nichts verbinden. Aber wenn ich so verdammt coole Bilder meiner Verwandtschaft vom Segeln auf dem Starnberger See in den 20er Jahren hätte, dann würde ich sie unter allen Umständen und für den Preis eines Erbschaftskriegs ergeiern wollen:



Ich mein: Wie cool ist das. Ein schnuckliges Holzsegelboot wie aus dem Gassenhauer, mit dem Namen "Fledermaus", siehe die leichte Operette. Ein idealer, enorm stilsicherer Erbonkel ganz in Weiss, mit Kapitänsmütze. Man sieht den Glanz des Bootslacks, man erahnt das gleissende Weiss der Segel an einem schönen Tag zwischen Starnberg und Percha, und im Süden müssen sich die Alpen majestätisch erhoben haben. Wer weiss, ob das Photo nicht die Süsse gemacht hat, die nach dem Knipsen mitgefahren ist, ihre Zehen in das warme Wasser streckte, und Schlager der Zeit vor sich hinpfiff; es muss jedenfalls ein toller Tag gewesen sein, sonst hätte man es nicht abgelichtet, gerahmt und 80 Jahre bewahrt, bis eben jetzt. Es ist eine Familiengeschichte, auf die man nur neidisch sein kann, wenn der eigene Clan zu dieser Zeit allenfalls Faltboot fuhr und die meiste Zeit mit stinkenden Automobilen und Motorrädern in die Wälder knatterte, um mögllichst grosse Hirsche abzuknallen, oder mal wieder den Steyr XII mit seiner anfälligen Lenkung (never trust an Ösi!) in den Strassengraben zu pilotieren. Auch da gibt es Bilder, die Geweihe haben sich erhalten, aber ich würde das nie aufhängen, zu fern ist mir diese Art Vergnügen. Diesen meinen adoptieren Erbonkel und seinen Tollen Tag - den hänge ich selbstverständlich auf.

Und fluche derer, die ihn nicht zu schätzen wussten. Denn so geht man mit Erbonkeln einfach nicht um.

Montag, 12. November 2007, 13:56, von donalphons | |comment

 
Also einerseits würde ich dir recht geben, andererseits gibt mir die Beflaggung der Jole etwas zu denken...wenn das Photo wie du sagst aus den 20er Kahren stammt, dann war die schwarz-weiß-rote Flagge definitiv die eines Kaisertreuen (wenn nicht gar schlimmeres - die Flagge der Republik war schließlich schwarz-rot-gold...) - ein ordentlicher Bayer übrigens hätte mit Sicherheit weiss-blau geflaggt ;-)

falls dass Photo vor 1918 entstand sei alles zurückgenommen

... link  

 
Ich nehme nach meiner Kenntnis der Starnberger Segelklubs mal eher an, dass es die Fahne eines der dortigen Vereine ist; Hoheitszeichen bei so einem Tümpel halte ich für unwahrscheinlich.

... link  

 
die seeseite stimmt zwar nicht ganz (sieht mir eher nach der ecke tutzing/garatshausen aus), aber 100% ack.

SOWAS würd ich mir auch gern in den gang hängen

... link  

 
Marinehistorische Bemerkung
Auch in der Weimarer Republik führten deutsche Handelsschiffe ganz offiziell die schwarz-weiß-rote Flagge - und als republikanisches Alibi ganz klein in der oberen inneren Ecke eine schwarz-rot-goldene "Gösch".

Es gibt übrigens auch heute noch Yachtclubs, deren Vereinsflaggen unübersehbar Varianten der kaiserlich deutschen Reichskriegsflagge sind ...

So ein Bild würde ich mir auch gern in den Flur hängen - wo ich sowieso schon einige Zeichnungen und Gemälde historischer Segelschiffe, darunter auch Yachten, hängen habe. (Wehe wenn jemand das als "Kitsch" bezeichnet! Auch wenn ich nicht in Abrede stelle, dass in manchen norddeutschen Haushalten die "Dreimastbark in bewegter See" das hanseatische Gegenstück zum "röhrenden Hirsch" darstellt.)

Einen orginalen Aschenbecher des Travemünder Yachtclubs aus den 20er Jahren nenne ich außerdem mein eigen - er wäre viel zu edel, um da einfach hineinzuaschen, wenn ich rauchen würde. Außer man raucht edle Zigarren. Wenn auch für einen echten Yachtsegler alten Stils Pfeife stilecht wäre. Aber sportliche Jollensegler rauchen nicht - jedenfalls nicht an Bord.

Für einen Jollensegler auf dem Starnberger See zeigt Dein "Wunsch-Erbonkel" bemerkenswert Stil. (Und nenne den See nicht "Tümpel" - schließlich hatte Hans Albers dort ein Haus, direkt am Ufer - er war zwar nie Seemann, war aber Genießer mit ganz eigenem Stil: der wusste, was schön und gut ist.)
Heute sieht man so etwas nicht mal auf der Außenalster oder am Süllberger Jollenhafen. Solche Jollen - karwel in Mahagoni gebaut, als Gaffelslup getakelt - allerdings schon noch, auch wenn die edlen hölzernen Wogenreiter selten geworden sind. Könnte eine alte H-Jolle sein, bin mir aber nicht sicher (einige schöne alte H-Jollen haben noch auf dem Chiemsee ihr Revier).

... link  

 
photofetischhistorische bemerkung
Vor ca. 15 Jahren fand ich auf dem Flohmarkt an der Strasse des 17. Juni das Photo einer jungen selbstbewussten Lady von ca. 12 - 14 Jahren in einem dieser Wühlkästen mit alten Photographien. Entstehungszeit auf den ersten Blick wahrscheinlich zwischen 1915 und 1925. Das Bild war hervorstechend, ich mischte es in einen Pack mit Bildern von anderen Menschen, teils, um mir deren Leben zu meinem Vergnügen an einsamen Winterabenden beim Anblick der Photos herbeizuphantasieren und teils, damit ich nicht mit einem einzelnen Bild einer Minderjährigen an den Händler herantreten musste, Droste wurde gerade wegen seiner Schokoladenonkel-Geschichte geteert und gefedert, mann musste vorsichtig sein. Ich handelte mit dem Händler und zahlte 10 DM als wir uns einig waren. Zuhause angekommen flog der Fächer in einen abgeschabten Karton, denn es war Sommer und ich war nicht einsam.

Doch der Winter kam und in diesem Jahr schaffte ich es nicht rechtzeitig mit den anderen Menschen aus der kalten, dreckigen Stadt zu fliehen, und so war ich einsam und setzte mein Zerstreuungsprogramm um. Das Photo lag noch immer in der Kiste mit den anderen Photos von Menschen aus dieser Zeit, neben vielen Gesichtern von Fremden, denen das erloschene Glück und die vergebliche Gier danach in den Blick geschrieben war. Aber das Bild der kleinen Lady war anders.

Das fertigende Atelier - laut rückseitigem Aufdruck des Aufziehkartons mit Filialen in Liegnitz und Hirschberg - bietet eine für die damalige Zeit sehenswert schlichte Studiodekoration auf, bestehend aus drei mit Stoff bespannten und zu einem offenen Kasten arrangierten Trennwänden, die der lässig entschlossenen Haltung der Figur erst die volle Dynamik gibt.

Die eine Spur zu gross wirkenden schwarzglänzenden Lederhalbschuhe sind - wenn nicht von älteren Brüdern geerbt - so doch explizit von der Trägerin ausgewählt, fremdem Anblick des abgewinkelten Fusses am Spielbein einen maskulinen Stand entgegenzustellen, selbst, wenn die Person hier auf einer etwas lieblos hingeworfenen und irgendwie wahllos in diesen Kasten drapierten Wolldecke steht. Diese Wolldecke am Boden lässt beim Betrachter erstmals die Vermutung zu, dass die zuerst bemerkte Schlichtheit der Studiodekoration nicht etwa den Lichtbildmeister als frühen und bekennenden Anhänger der neuen Sachlichkeit ausweist, sondern der renitenten Ablehnung der verfügbaren Genrestudiohintergründe beim zu photographierenden Objekt geschuldet ist. Eine kleine, aus der Situation heraus geborene Improvisation, die notwendig wurde, da der anwesende Herr Papa, müden oder mangelden Willens halber, die Vorstellungen des Lichtbildmeisters, wie das Bild einer 12 - 14-Jährigen anzufertigen sei, mit der gebotenen väterlichen Strenge bei dem verzogenen Balg nicht durchzusetzen vermochte. Aber es ist ja Kundschaft und die zahlt schliesslich.

Der Rock der jetzt durch den kleinen Disput mit dem Lichtbildmeister mit Selbstbewustsein befeuerten Lady ist, wenn nicht aus recht grobem, so doch immerhin einem Tuch, das sich nicht gleich in gefällige Falten schmiegt. Oder ist das etwa eine jupe culotte? Ein Kleidungsstück, das in einer deutschen Provinzstadt der 20er Jahre vielleicht noch immer der Trägerin Spott eintragen konnte und es zeugt auch hier entweder von einer unerschütterlichen Immunität der kleinen Person gegen überholte geschlechtsspezifische Kleidungskonventionen oder einem Elternhaus, das die Tochter etwaigen unnützen Kalamitäten wie dem Spielen mit gleichaltrigen Kindern erst gar nicht ausliefern will und sich das leisten kann. Darauf lässt auch der Mantel schliessen: geschnitten wie ein Caban oder was wir unter einem Marinekurzmantel verstehen, lediglich die an der Schulter aufgepufften Ärmelansätze feminisieren das Stück leicht, so dass der Kleidungskonvention auch in diesem Falle der kleinstnotwendige Tribut gezollt wurde. Der rechte Arm ist leicht angewinkelt damit die zugehörige Hand wie selbstverständlich in der Seitentasche des Mantels Halt findet. Einzig der über den Taschensaum ragende Daumen demonstriert, dass es sich bei den hellen fingerlosen Handschuhen an der an der Hüfte anliegenden linken Hand wieder nicht etwa um ein Versehen, sondern um ein klar kalkuliertes Statement handelt. Ein Halstuch unterstreicht die kühle Verwegenheit des Blicks den nur hat, wer früh Demütigungen von Natur und Gesellschaft hinter sich liess mit nur einem Ziel: leben! Das eigene, einzige Leben in möglichster Fülle zu leben.

Zuletzt die Mütze. Hell und leicht, wie ein in sich zusammenfallender Ballon wölbt sie sich auf einem festen Stirnband sitzend an den Seiten über die, nun, sind wir ehrlich, etwas großen Ohren, auch hier wird die richtige Proportion zum Rest der Erscheinung durch ein Detail erst erzeugt, eine von der Schleife über der linken Schläfe gehaltene, kaum die Farbe der Mütze kontrastierende, weisse Feder.

Da steht sie, namenlos. In nicht ganz 10 Jahren werden sich die Männer um sie reissen, ihr zu Füssen liegen, ihr Wünsche von den Lippen ablesen. Sie aber wird schnelle Autos und Pferde und Flugzeuge, die sie selbst steuert, lieben. Sie kann bei rauher See eine Sharpie manövrieren und wird Dreitausender besteigen. Es gibt noch weisse Flecken auf dem Globus, die auf sie warten.

Ihr Leben wird so abenteuerreich sein, wie sie es sich als Kind erträumt hat. Das verheisst dieses 85 Jahre alte Photo einer wahrscheinlich längst Toten. Aber hier, beim Anblick dieses Bildes ist man versöhnt mit der Welt und ihrem Stachel, dem Tod: die sichtbare Lebenslinie liegt so klar. Nicht in den Details, aber im Gelingen. Hier wird einem Menschen das glückliche Leben geschenkt, das alle verdient hätten. Ein Kind, dem das Leben die gegebenen Versprechen einlösen wird.

So dachte und fühlte ich damals beim Anblick diesen kleinen Fetischs des Trostes.





Das ist das Elend hier: es gibt keine unbeschwerten Geschichten. Im Zweifelsfall hat der Erbonkel nur ein paar Jahre später so lässig wie auf dem Photo die Ruderpinne, na ja, klassenbedingt vielleicht nicht gerade einen MG-Lauf entlang der Horizontlinie Russlands auf dem Weg nach Stalingrad, aber vielleicht ein Lineal über die Pläne von Dora Mittelbau geschoben. Im Fall meiner kleinen Lady bin ich mir heute fast sicher, dass sich ihr fast alle Träume erfüllten: mehrfache Rekordhalterin im Segelflug, Testpilotin, erste Frau, die einen Hubschrauber flog, erste Frau, die ein Raketenflugzeug steuerte, nur ihr Wunsch, sich für den geliebten Führer als Kamikazefliegerin über England zu opfern, blieb unerfüllt.

... link  

 
Aha...
danke für die Aufklärung, mmar!
ich wollte Dons Erbonkel ja auch nichts unterstellen (auch wenn ich dss getan habe) und nur auf die kaiserlichen Farben am Mast hinweisen - nichts für ungut.

Nachtrag: und nachdem ich nun die Zeilen von Logog gelesen habe, bin ich wiederum etwas verwirrt und auch ein wenig erschüttert und rätsele warum nicht einmal das Kommentieren eines Blogs einfach sein kann: Statement und das wars, nein! immer wieder neue Aspekte und Gedanken. Immer wieder gilt es neu abzuwägen und nichts ist wie es scheint...vielleicht sollte ich öfter schweigen

... link  

 
nein, reden/schreiben ist gold. wenn's beim formen der gedanken hilft.

... link  


... comment
 
Beflaggung der Jolle?
Wo seht Ihr da eigentlich eine Flagge auf der Jolle? Kann ich beim besten Willen nicht entdecken.

Das was da auf dem linken Bild weht ist eine Flagge an einem Flaggenmast auf dem Steg. Und wer weiss ob der Steg zu der Jolle gehoert oder ob da vielleicht nur zu Besuch angelegt wurde?

... link  

 
Auch schon gemerkt?
Eine so große Flagge wäre auf einer Jolle auch mehr als ungewöhnlich. ;-)

Da die Flagge am Hauptstock gesetzt ist, könnte es tatsächlich die Nationalflagge sein. Was - siehe meine Anmerkung - nicht unbedingt gegen eine Aufnahme aus der 20. Jahren spricht.

Damit gibt es folgende Möglichkeiten:
- Aufnahme aus der Zeit von 1918,
- Aufnahme aus der Zeit zwischen 1919 und 1933, wobei entweder die "Handelsflagge" (Flagge der deutschen Handelsschiffe) oder eine der alten kaiserlichen Flagge ähnelnde Vereinsflagge gesetzt war, oder
- Aufnahme zwischen 1933 und 1935, als zwar "Schwarzrotgold" schon von den Nazis verboten war, aber die Hakenkreuzflagge noch nicht alleinige Nationalflagge war.
Schlußfolgerungen hinsichtlich der politischen Haltung des Jollenseglers oder der Segelvereins: nicht möglich!

... link  


... comment