: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Dienstag, 16. September 2008

Der unheilige St. Lemanius

Zahlvorgänge sind nicht mein Ding. Im Internet, wo es wegen der transatlantischen Käufe mitunter nicht anders geht, fühle ich mich unsicher. Mit Karte habe ich in meinem Leben kaum ein Dutzend gezahlt, als es wirklich nicht anders ging. Und beim Zahlen mit Münzen und Scheinen habe ich Angst, ich könnte zu wenig hergeben, was mich dann in eine peinliche Situation bringen würde. Oder aber mein Gegenüber macht einen Fehler beim Herausgeben, was mich zwingen würde, ihn - und damit auch mich als Verursacher - in eine peinliche Situation zu bringen. Wenn es dann doch mal sein muss, bin ich die Höflichkeit in Person, ich bedaure, ich befürchte, ich ersuche um Nachrechnung, und mitunter geht das auch schief.

Wie vor zwei Jahren, als ich in der gewohnten Apotheke eine Kleinigkeit kaufte. Die Apotheke ist alt und noch wie in den 20er Jahren eingerichtet, als jemand aus meinem Clan noch die Holzeinichtung der beseren Geschäfte der Stadt besorgte; in den Regalen stehen Mörser und Salbgefässe, in den Gängen sind alte Holzschnitte von Heilpflanzen aufgehängt. Es gibt keine Werbung, aber früher einen dicken Apotheker, der Kindern wie mir den Eindruck vermittelte, dass er sie wirklich gesund machen wollte. Doch gegen seinen eigenen Tod hatte er auch kein Medikament, und es war eher die Tradition und die Einrichtung aus Holz denn sein wenig charmanter Sohn, der mich weiter dort einkaufen liessen.

Bis zu jenem Tag vor zwei Jahren, als ich unmittelbar vor dem Einkauf einen 50-Euroschein aus dem Bankautomaten holte und für ein paar billige Kopschmerztabletten nur das Wechsekgeld auf 10 Euro zurückbekam. Ich habe gelernt, in solchen Situationen höflich zu sein, und auf pampige, laut vorgetragene und einen Betrug andeutende Sprüche, wie sie auf meinen Einwand folgten, wusste ich keine rechte Antwort; also ging ich beraubt von dannen und erzählte nur drei stadtbekannten Tratscherinnen, wie das da drinnen inzwischen zugeht.

Vor zwei Wochen kam ich an der Apotheke vorbei; davor stand ein Container voll mit zertrümmerten Regalen und Vertäfelungen, auf deren Intarsien beim Herausreissen keiner Rücksicht genommen hatte. Die 40 Euro waren ärgerlich, aber der Anblick tat weh.



Die Holzschnitte aus dem Gang jedoch gelangten auf einen Flohmarkt der Region, wo ich sie gestern entdeckte. 5 Stück für 8 Euro, ein Arbeiter hatte sie wegen der Rahmen gerettet, und dem Apotheker war es offensichtlich egal. In das Umfeld, das er dort einbauen lässt, hätten sie nicht mehr gepasst. Hinten kleben noch die Bapperl der Münchner Galerie drauf, die sie seinem Vater verkauft hat. Es ist nicht der Wert und der Ausgleich, eigentlich sogar der Überausgleich, den sie darstellen, es ist die Geschichte, für die ich dankbar bin.

Es ist ja so mit den Flohmärkten, dass sie nie schlecht sind, auch wenn sie schlecht scheinen. Der Flohmarkt gestern etwa ist nicht das natürliche Umfeld für Holzschnitte des XVI. Jahrhunderts, aber man muss nur die Augen aufhalten. Und flexibel sein. Nachdem gestern mit dem Zusammenbruch von Lehman und der ersten Herbstkälte ein reichlich morbides Datum erreicht wurde, war ich auch hingerissen von der reichlich zerstörten, kopflosen Heiligenfigur.



Ich würde sie normalerweise unter "Plunder" einsortieren, und mit dem Katholizismus habe ich es auch nicht, aber in diesem Zustand, enthauptet, entarmt und die Schwurhand zertrümmert, hatte sie etwas wunderbar Pathetisches an sich. Nun ist das hier Bayern und katholisch und voll mit Sammlern alter Kirchenkunst, denen angesichts des hiesigen Barocks und seiner billigen Machart mit Stuck und Holz kein Schaden fremd ist, und die sicher irgendwo noch einen Kopf für die Restaurierung im Fundus haben. Solche Statuen sind normalerweise nicht billig und nicht leicht zu bekommen, aber die hier kostete nur fast so viel wie eine Lehmanaktie zum Börsenschluss am letzten Freitag. Und da konnte ich nicht widerstehen.

Es ist unklar, was für ein Heiliger das war; es fehlen schliesslich Kopf und Attribute, aber so, wie er ist, zerstört, zertrümmert und mit falschem Gold bemalt, habe ich angesichts der wenigen Silberlinge Kaufpreis beschlossen, ihn als den unheiligen St. Lemanius aufzufassen. St. Lemanius also, der kopflose Heilige, dem man die raffgierige Linke amputiert hat und der mit letzter Kraft den Offenbarungseid schwört, der Schutzpatron des bislang gottlosen grauen Kaptalmarkts und des Derivatehandels, der moderne Heilige im weissen Bilanzhemd, der im grossen, barocken, bayerischen Heiligenhimmel gefehlt hat, und den nur ich besitze, so dass alle Stossgebete der Bayerischen Landesbank, der CSU und der Mörder unserer historischen Bausubstanz ins Leere laufen.



Vielleicht expandiere ich damit auch in den Ablass- und Reliquienhandel; diese unsere Zeit ist ohne Hoffnung, aber voller Schuld und Schulden, da könnte so ein Knochen von St. Lemanius noch glaubwürdiger sein als die Behauptung vom Ackermann, dass das Schlimmste jetzt vorbei ist.

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Ich würde MC Winkel nicht anstellen

Aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist eher, ob Zoomer.de von MC Winkel in Zukunft Sager aus der Gosse will.

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Empfehlung heute: Zuerst mal die Praktis loswerden

Manche hier lesenden Veteranen vom letzten Krieg Downturn werden sich vielleicht auch an solche Szenen erinnern:

A 21-year-old Lehman graduate trainee in London, who declined to be identified by name, said he and 90 to 95 colleagues were called in by the human resources department and made redundant. They started work a week ago.

Da kann man nur hoffen, dass sie die Notebooks über das Wochenende mitgenommen und nicht wieder in die Firma gebracht haben. Es ist wie damals.

Nur viel schlimmer.

Und das ist erst der Anfang.

(Immerhin habe ich drei Leuten inclusive mir selber im letzten Jahr so viel Angst eingejagt, dass sie ihre Geldschäfchen ins Betontrockene des Eigenheims gebracht haben. und alle kann man ohnehin nicht retten)

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