Ersatzbayern in Berlin

Vorgestern bekam ich eine Mail eines Berliner Lesers, der meinte, seit ich aus Berlin weg bin, sei das alles hier zu zahm, zu nett, zu beschaulich geworden. Er habe die Dirt Picture Contests zwar früher gehasst, aber jetzt fehle ihm der typisch bayerische Hassblick auf diese Stadt. Nun, dem Manne kann geholfen werden, denn einerseits bin ich in nächster Zeit wieder in Berlin und habe meine Kamera dabei; an Dreck mangelt es der Stadt ja nie.



Andererseits gibt es auch andere Bayern in Berlin, die sich sicher ab und zu davor ekeln: Burnster aus Niederbayern und Susa aus München. Vielleicht sollte man bei Gelegenheit Nachts um 4 auch in der halbauthentischen Boazn Bergstüberl in der Veteranenstrasse rumfragen, ob da nicht auch noch jemand blogt. Da drin sind nämlich genau die, die eigentlich lieber wieder in München wären, Berlin, wenn sie einen ehrlichen Moment haben, komplett zum Kotzen finden und schon morgen wieder da wären, wenn sie hier unten eine Wohnung hätten. Besonders Anfang Dezember, wenn auch das letzte Piercing und das hinterste Arschgeweih in hässlichen, dunkelblauen oder dreckigweissen gesteppten Schlauchmänteln verschwunden sind und die Schönhauser Allee von einem Publikum bevölkert wird, das aus den schlechteren Vierteln Bukarests, Minsks oder Frankfurts zu kommen scheint.

Dienstag, 29. November 2005, 03:52, von donalphons | |comment

 
Ich erlebe gerade meinen ersten Winter in Berlin und kann eine gewisse Miesepetrigkeit der Berliner bestätigen. In Zehlendorf vielleicht nicht, aber zumindest in Treptow und Lichtenberg, wo ich mich meistens bewege, tiefer Osten also. Vielleicht liegts an gefühlter 30% Arbeitslosigkeit. Und ja, die Berliner sind einfach totale Dreckschweine, überall liegt ein Haufen Müll rum und dass obwohl die Straßenreinigung wirklich regelmäßig alles saubermacht. In Minsk, Bukarest, Frankfurt war ich noch nie, aber ich frage mich schon, ob dass in den anderen deutschen Großstädten wirklich so viel besser aussieht. Ich habe bis vergangenem Jahr auf schwäbischen Kuhdörfern gewohnt, von daher bin ich auch sehr verwöhnt und das hier ist eben die harte Wirklichkeit.

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das beste kommt noch
warts mal ab wenns so ende februar, anfang märz ist.
das ist das letzte zahnfleisch weg und das wetter dank
kontinentaleinfluß (nicht endender winter) macht dann
wirklich jeden depressiv.

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ach Schaefchen, da gewoehnt man sich recht schnell dran, z.B. immer ein halbes Auge auf umherliegende Tretminen zu haben u.s.w.
Die schwaebische Kuhdoerfer bilden eben nur einen kleinen Teil der moeglichen und menschlichen Existenz ab, welcome to reality in Berlin.
und ja funzen weist noch auf den Hoehepunkt des Berliner Winters hin: Februar, ja Februar. Den Monat sollte man sich langsam auf der Zunge zergehen lassen wie eine Kugel Vanilleeis. Aber im Gegensatz zu ihm finde ich das Ende dieses Monats ziemlich erleichternd (mit ihm faelt auch die Selbstmordrate gravierend).

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Ok, im Februar/März werde ich dann fliehen und mich in Dubai von jungen arabischen Männern durchkne an den Strand legen. Bis mich jemand aus Berlin anruft und mir sagt, dass jetzt der Frühling da ist.

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@schaefchen: berlin kann man wohl eher mit minsk vergleichen. (in bukarest war ich auch noch nie.) frankfurt hat weinbau-klima und ist daher auch für kälteempfindlichere naturen wie mich geeignet. außerdem macht der frankfurter an sich nicht halb so viel dreck wie der (neu-)berliner. wir sind eine zivilisierte stadt mit starkem bürgerbewußtsein und sauberer luft. leider nicht so gutem ruf, aber das ist ok., dann kommen nicht soviele provinzler, die an irgendeinem hype teilhaben wollen und uns nur die straßen verdrecken.

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Auch immer wieder lecker sind die Temperaturstürze im März/April. Kommen sehr schnell, halten sich zäh und bleiben wochenlang. Ausserdem taut dann der Permafrostboden, alles wird matschig und unter dem Schnee kommt der Müll der letzten 4 Monate zum Vorschein. Was zwar ein gutes, aber nicht wirklich schönes Zeichen ist. Immerhin muss man sich dann nicht mehr fragen, ob unter dem Haufen vor der Tür vielleicht eine Leiche liegt.

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Ich meinte bei FFM ja nur das Publikum aus DEM schlechteren Viertel schlechthin, zwischen Bahnhof und City. Das hat nun wirklich Berliner Dimensionen.

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Kürzlich durfte ich beobachten, wie sich Berlin noch in einem Punkt von Städten wie Lagos oder Havanna unterscheidet: Berliner setzen voll blindem Vertrauen und ohne zu Zaudern ihren Fuß auf Kanaldeckel. Das wird ihnen auch noch vergehen.

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alles halb so schlimm, die Lage hat dafuer den Vorteil, dass es hier erst recht spaet kalt wird waehrend sich die Stuerme meist schon im westlichen Teil der Republik entladen.
Hochwasser ist hier auch ein Fremdwort, von daher: allet gut.

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Sagen wir ml so: Berlin hat alles - ausser Hochwasser.

Und ich hoffe, dass allgemein die Ironie des Bildes erkannt wird - der gelbe Pfeil weist nach einem Stadtteil, der "Schöneberg" genannt wird.

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dann muesste Deinem Pfad folgend noch ein r hineingegimpt werden.

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Wieso, wir wissen doch alle, dass man von Berlinern nicht die Beherrschung der deutschen Sprache erwarten kann. Irgendwann sagte mal einer zum anderen: Voll krass Mann icke geh fett nach schöne Berg verschtehst - und weil dieser jemand damals schon 3 Kreuze unter einem Vertrag machen konnte, hielt man ihn für den klügsten Berliner und orientierte sich an seiner Aussprache. So kam es zu "Schöneberg".

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Das osmanische Reich dehnte sich zur Stadtgruendung m.w. noch nicht bis nach Berlin aus, insofern sind mir diese neueren Sprachverwurstelungen in punkto Benennung eher unverstaendlich. Können wir unds darauf verstaendigen, dass Berlin seine beste Zeit schon hinter sich hat und die Provinz diesbezueglich nur etwas hinterherhinkt?

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Punkt 1 ja, Punkt 2 nein. Ich erzähle nachher gern mal die Geschichte der in die andere Richtung rennenden Provinz, vorgrführt am gestrigen Abend beim Window-Shoppen.

Und diese Sprache ist unabhängog von der Herkunft, mag mir scheinen.

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Jetzt mal ernsthaft: Moabit kommt von "moi, j´habite..." wie die Hugenotten die Antwort auf die Frage nach ihrem Wohnviertel einleiteten (und nicht von den Moabitern und auch nicht von den Mao-Anhängern im dortigen Knast, wie die Spontis glaubten), andere Stadtteile haben slawische Namen, Neukölln soll von Einwanderern aus dem Rheinland gegründet worden sein... multikulturell war Berlin schon vor Döner-Zeiten. Pidgin-Sprachen wandeln sich ständig und adaptieren von überall her, vgl. z.B. kroatische Ausdrücke wie "Friserski", "Pekara" oder "psichicki problemski".

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@Frankfurt: Das Bahnhofsviertel ist nun winzig. Ich würde, wenn schon, dann Frankfurt/Oder zum Vergleich heranziehen.

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Rixdorf -> Neukölln
Rixdorf war in so schlechtem munde, daß es von oben (von der amtstragenden regierung) und markentechnisch in Neukölln umbenannt werden mußte. man brauchte einfach einen neuen namen für die gegend.

naja und so multikulturell war berlin eigentlich nicht.
abgesehen vom einwanderungsstrom nach der roten revolution 1917 die eher die entnervten nach paris, aber auch nach 'Charlottengrad' führte.

Wenn man an die spandauer denkt (die sich ja heute noch immer noch nicht als 'berliner' bezeichnen) ist man dann doch
erst seit zuzug der schwabenfraktion (die seligen zeiten ohne bundeswehr) angeblich multikulturell geworden.

aber bitte nicht mit denen vom andern kiez. da reicht es ja schon statt 36 in 61 zu wohnen...

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Rixdorf hatte so einen gutes Image wie St.-Pauli³

Klar war Berlin multi-kulti. In Rixdorf wurden Anfang des 18. Jahrhaunderts glaubensverfolgte, böhmische Kolonisten angesiedelt. Stichwörter: "Evangelische Brüdergemeine", "Jan Hus" oder "Herrnhuter Brüdergemeinde". Bekannt ist der "Herrnhuter Stern", ein Weihnachtsstern mit Strahlen in alle Richtungen.

Der Erinnert mich immer an meine Berliner Zeit, da ich in Neukölln gewohnt habe und zur U-Bahn am Gemeindesaal der Kirche vorbei gegangen bin, wo zur Adventszeit ein grosser "Herrnhuter Stern" hing.

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Herrnhut
mmmhhhh aber was hat herrnhut mit böhmen zu tun ?
liegt doch eher in der lausitz, sprich sachsen.
ist vielleicht sorbisch/ slawisch ?

die herrnhuter wochenlosungen weiß ich dank eigener historie gut zu schätzen...

naja berlin multikulti ? vielleicht eher eine rote stadt. dank der arbeiterbezirke - 'roter wedding'. und zum glück keine 'stadt der bewegung'... selbst die hugenotten wurden ja eher assimiliert.

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Herrnhut 2
Am 17. Juni 1722 fällte der mährische Zimmermann Christian David den ersten Baum zum Anbau Herrnhuts. Der vom Pietismus geprägte Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf stellte mährischen Flüchtlingen Land zur Verfügung und gründete mit Ihnen den Ort.
Zufluchtssuchende anderer Glaubensrichtungen hatten aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat und Kirche verlassen, als sie von der Entstehung Herrnhuts hörten und siedelten sich dort an.
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wieder was gelernt.......

@ strappato: wo haste denn gewohnt ? ich 7 jahre isarstraße (nähe flughafenstr.)

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Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde in Böhmen und Mähren durch eine große Erweckungsbewegung die alte böhmische Brüderkirche wiederbelebt. Diese war aus der evangelischen Glaubensbewegung der Hussiten entstanden. Gleichzeitig lebten aber auch die Verfolgungen auf, denen die Mitglieder dieser Glaubensrichtung bereits in den vorangegangenen Jahrhunderten ausgesetzt waren. Sie führten immer wieder dazu, daß Teile der Bevölkerung aus Glaubensgründen auswandern mußten und in anderen Ländern Aufnahme fanden. Deutsch sprechende Mähren gründeten in der Oberlausitz 1722 den Ort Herrnhut und 1727 die Evangelische Brüdergemeine. In Großhennersdorf bei Herrnhut, in Gerlachsheim und Cottbus siedelten sich tschechisch sprechende Böhmen an. Aber auch dort waren die Zugewanderten nicht wohl gelitten. Deshalb wandte sich der Prediger der Groß-Hennersdorfer Böhmen, Johann Liberda, um Aufnahme an Friedrich Wilhelm I., den König von Preußen, der in der Vergangenheit bereits anderen, aus Glaubensgründen Verfolgten, Zuflucht gewährt hatte. Bald machten sich weitere Gruppen von Böhmen auf den Weg und fanden in Berlin Unterkunft, darunter auch die Gerlachsheimer, die sich kurzerhand den Cottbusser Böhmen angeschlossen hatten.

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Ich 7 Jahre Sonnenalle nähe Richardplatz und Herrnhuter Brüdergemeinde.

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multikulturell
Nicht zu vergessen das Scheunenviertel (rund um die heutigen Hackeschen Höfe), wo sich einstmals ein Querschnitt der osteuropäischen Judenheit ansiedelte.

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Nicht zu vergessen das Edikt von Potsdam, in dem Kurfürst Friedrich Wilhelm 1685 die in Frankreich verfolgten Hugenotten in sein vom Dreissigjährigen Krieg verwüstetes Land einlied. Um 1700 waren 20% der Einwohner Berlins Franzosen. Auch östereichische Protestanten aus Salzburg sind in beträchtlicher Zahl 1731/32 nach Berlin gekommen.

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Dann gab es noch polnische Einwanderungswellen während der polnischen Teilungen (in erster Linie nach Paris, in zweiter nach Nordamerika, aber in dritter eben doch auch nach Berlin, war ja nicht weit) und zwischen1830 und 1870 eine heute fast vergessene Einwanderungswelle aus Galizien, Wolhynien und Podolien nach Deutschland generell, bevorzugte Städte Berlin, Bremen, Delmenhorst und das erst 1862 als eigene Stadt gegründete Oberhausen.

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... und zu guter letzt die abertausende von Bundeswehrflüchtlinge, die bis zur Wende aus West-Deutschland nach Berlin kamen, um dem Wehrdienst zu entgehen.

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Davor aber noch die Funktionselite eines gewissen Reiches, die allem Unbill zum Trotz wohl immer noch in Grünewald und Willmersdorf haust oder begraben liegt.

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aber reicht das für 'multikulturell' aus ?
die friederichs haben zwar viele andere eingeladen aber bis auf die religionsausübung gabs dann doch nicht viel spielraum - im zweifelsfall wurden die 'zugeroasten' preußischer als die preußen selbst; dabei half sicher auch der militärdienst. ich habe im hinterkopf auch die entsprechenden formulierungen, muß mal kramen...

selbst die assimilierten (oft auch im marsch in die evang oder röm-kath religion befindlichen) juden schauten ja eher mit verachtung auf die galizischen und osteuropäischen glaubensbrüder herab. also wirklich multikulti und schmelztiegel wie die damalige neue welt (New York) ?
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@strappato: ich mußte immer über den anblick des schrottplatzes zwischen finanzamt nor und estrel-hotel herzlich lachen. das war/ ist die fortsetzung des verslumens auf großniveau.

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Als ich weggezogen bin, war das estrel-Hotel gerade in Planung. Jeder meinte, das grösste Hotel Deutschlands in dieser Industriebrache zu bauen, ist eine Schnapsidee. Aber es scheint sich gelohnt zu haben. Übrigens habe ich auch mal ein paar Monate in der Neuköllner Str. in Grophiusstadt gewohnt. Mir ist also nichts fremd.

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Hat da jemand ein Bild, damit die Nichtberliner zufrieden mit dem Kopf wackeln können?

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Multikulturell meint in vielen Fällen, auch und gerade in den USA (New York ist da - und auch nur teilweise - die Ausnahme) , die ghettomäßige Segregierung wie in L.A. eher typisch: Hier die Black-Muslim-Community, daneben die christlichen Schwarzen, dort die Koreaner, daneben die Japaner, dort die Iren, jede Community mit einer eigenen, ethnisch reinen Mafia, jede Community mit einem eigenen Mensatisch in der Uni. Multikulti, das ist in vielen Fällen eine Art Apartheid. Auch die damalige neue Welt war nur selten ein Schmelztiegel, vgl. rein deutsche, polnische, niederländische etc. Siedlungen. Greenwich Village, Manhattan, Hashbury in Frisco,Soho (sowohl das in NY als auch das in London) das waren/sind melting pots, aber: Ausnahmeerscheinungen.


Insofern haben dörfliche Berliner Ghettos wie Krüzbürg und Friedrichshain durchaus Weltniveau.

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Assimiliert
@funzen: Die ganzen Rakowskis, Schimanskis, Kabertas im Ruhrpott sind doch so deutsch wie nur irgendwer. Die Preußen waren mal ein eigenständiges slawisches Volk (die Pruzzen), in denen dann noch Obotriten, Kaschuben und Kuren weitgehend aufgingen. Insofern hat die Assimilierung hundertpro geklappt, nur: zwischen Assimilierung in Form von völliger Aufgabe der eigenen ethnisch-kulturellen Indentität und der Existenz in Parallelwelten hat es in Deutschland nur selten etwas gegeben. Wobei gerade diese "Zwischenlösung" eher wünschenswert wäre.

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Wirklich geben tut es den Schmelztiegel in der Karibik und Brasilien, da sind aus afroiberischen Elementen teilweise neue Kulturen und Ethnien entstanden. In unserer Nachbarschaft fiele mir das Elsass ein, wo die Leute ein bißchen Franzosen und ein bißchen Deutsche sind.

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und Schweizer und Juden...

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Stichwort Juden: Wie ist das eigentlich mit Israel? Ist meine Wahrnehmung einer Gleichzeitigkeit von Schmelztiegel und parallelen Gesellschaften (unter der jüdischen Bevölkerung, um Missverständnisse auszuschließen) zutreffend?

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Da herrscht faktisch Krise im Moment, weil die Integration der Russen so mies läuft. Früher wollten alle ein Israel, heute sind da Leute, die Russland in Israel wollen. Was zur völlig aberwitzigen Situation führt, dass es in Israel inzischen auch Skinheadbanden gibt. Aber auch zwischen den Alteinwanderern gibt es nicht viele Mischehen, was sicher auch ein soziales Phänomen ist. Pluralismus bei weitgehend gleichgelagerten Interessen angesichts einer feindlichen Umwelt und durchgeknallten Religiösen trifft das Lebensgefühl der Mehrheit der meisten Gruppen wohl am Besten. Nur Verallgemeinern würde ich da auch nicht wollen.

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@don: estrel
http://www.aac-berlin.de/aac/luft023.html

auf der einen seite des kanales (angelehnt an die S-Bahn) das Finanzamt Nord (weißes Gebäude). direkt gegenüber am kanalrand (zu erahnen am blauen baukran) schrotthandel (wenn er noch da ist) . und das große gebäude direkt daneben das estrel-hotel..

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