: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Samstag, 1. Januar 2005

Real Life 31.12.04 - Zwischen Welten

Ich sage artig Guten Tag zu den Stützen der Gesellschaft, die sich bei meinem Clan versammelt haben, und erkläre, warum ich hier und heute leider nicht die Vorzüge ihrer Gesellschaft geniessen kann. Eine geschmacklose Laune des Architekten unseres Hauses erlaubt es, eine zehn Meter lange Tafel mit grandiosem Blick auf ähnliche Domizile aufzufahren, aber ich werde dieses Fest nicht mit meiner Anwesenheit belasten. Bei den eingeladenen Stützen gilt Anstand und Moral noch etwas; folglich haben sie ihre Kinder, soweit immer noch unverheiratet, mitgebracht. Mein Abschied wird nur oberflächlich bedauert. Seitdem ich Literat bin, wissen sie nicht, wie sie mich einordnen sollen; der Journalist galt ihnen nie viel, aber Bücher sind laut ihrer Ideologie eine Form Erfolgs, der man eine gewisse Achtung nicht verwehren kann, auch wenn man sie nicht gelesen hat. Sie wissen jedoch, jeder hat in diesem Viertel davon gehört, dass ich eine Beschreibungen ihrer Domizile in Liquide verwendet habe, und sie sind erleichtert, sich dergleichen Gehässigkeiten nicht auch noch zum Jahresende anhören zu müssen.

Später dann, als ich für Iris und den Anblick ihres dunkelroten Samtkleids koche, und sie mit der silbernen Vorlegegabel einzelne Blätter aus dem schon angemachten Feldsalat stiehlt, frage ich sie, wie sie eigentlich mit all dem Trara hier fertig wird, dem Repräsentieren, dem Was Sein, dem Was Gelten.

Tu ich ja nicht mehr, meint sie und ausserdem, dass sie gar nicht mal unglücklich ist, jetzt als verwöhntes Flittchen zu gelten, dem nichts gut genug ist. Sie ist eigentlich nicht mehr vorzeigbar, repräsentabel oder Teil der Gesellschaft, denn es muss in den Berichten der Stützen der Gesellschaft immer nach oben gehen, das Neue muss stets gut sein, und wenn so ein grosses Ding wie die Ehe scheitert, dann bekommt man zwar die Aufmerksamkeit, aber nicht den Ruf, den man hier braucht. Dass sie dem Pfarrer ihrer Gemeinde, der mit ihr über die Sache reden wollte, einen Korb gegeben hat, hat es für ihre Eltern auch nicht leichter gemacht. Die haben sich über Silvester aller gesellschaftlichen Verpflichtungen ihres Freundeskreises entzogen, indem sie für drei Wochen in Sachen Wellness an die Algarve gefahren sind.



Man entgeht diesen Mechanismen nie, sage ich und lege das Besteck aus. In der Welt, in der ich war, läuft es heute ähnlich. Wer die Anforderungen der Ideologie nicht erfüllen konnte, hat sich eben was zurechterfunden, oder verheimlicht die frühere Pleitenfirma. Am Ende, heute und noch sicher 2005, werden sie sich alle gegenseitig erzählen, dass sie Erfolg haben, dass ihre neue, verhungerte 1-Personen-Firma das einhält, was sie im auf 100 Mitarbeiter aufgeblasenen Startup nicht geschafft haben. Frauen, die aus dem System rausfliegen, landen plötzlich auf dem Hochzeitsstrich. Und die paar Vorreiter, die das Ganze halbwegs überstanden haben, weil sie brutal genug waren, weil sie die besten Ausbeuter sind, geben immer noch den Takt vor. Und für die, die drin sind, gibt es auch kein Entkommen - wo sollen sie mit ihren Erfahrungen auch hin. Das Establishment gibt weiterhin die Durchhalteparolen aus, dass die New Economy jetzt erwachsen ist, und für den Urlaub hat ohnehin keiner mehr Geld, und die Wochen zwischen den Projekten kann man nicht weg, weil ja ein neuer Auftrag kommen könnte. Solang wird weiter an der Legende des Goldenen Zeitalters gestrickt. Die Mechanismen wurden nicht ausser Kraft gesetzt, sondern den neuen Gegebenheiten der neuen Wirtschaft angepasst. Die Flucht vor den alten Spiessern endet bei den neuen, spiessigen Versagern.

Hmja, sagt sie, beugt sich vor, die nackte Schulter und den Arm lang über den Tisch gestreckt, wo der Kerzenschein ein weiches Licht auf ihre Haut wirft, und piekst ein Stück des Scamorza auf, der die Speisenfolge eigentlich beenden sollte. Auch eine Art der Rebellion.

... link (15 Kommentare)   ... comment