Deutsche Sitten
Ich war noch nicht lang in München, als ich eine Familie kennenlernte, die man vor 100 Jahren vielleicht als Angehörige der besseren Kreise bezeichnet hätte. Vom Schlafen im Lehel abgesehen, hätte ihr Leben auch komplett im ehemaligen Kreuzgang der Theatinerkirche stattfinden können, vom Feinkostladen über Arzmiller zum Antiquitätengeschäft mit seinen üppigen Silberangeboten, dann weiter zum Herrenausstatter, während die Damen zum Friseur gingen. Für Menschen ohne grosse finanzielle Sorgen ist das Geviert eine Art Mikrokosmos, dem damals nur ein Buchladen fehlte. Theresa lag damals noch gegenüber, und später würden sie ihren Herrenladen strategisch günstig zwischen Innenhof und Hauptgeschäft platzieren - schau, Max, der Anzug, der wäre was für dich.
Wann immer ich mich aber mit einem von ihnen traf, besuchten wir zuerst, wenn man so will, das Hauptgeschäft: Die Theatinerkirche selbst. Wie manche gewohnheitsmässig an der Residenzstrasse die Nasen der Löwen vor dem Palasteingang bereiben, ging man hier in die Kirche und zündete hinten links eine Kerze an. Und als ich heute, zur Auffrischung der Erinnerung und des kunsthistorischen Wissens, mich durch die enge Pforte in das schon dunkle Kirchenschiff gedrückt hatte, war dort eines dieser mitteljungen Paare, wie es sie nur in solchen besseren Gegenden gibt, er Consultant, sie Reiterin, idealtypisch in Kleidung, Aufmachung und Verhalten, und dazu knallten ihre Stiefel auf dem Marmor, als ginge es darum, den Klang von 33 wiederzubeleben, der draussen vor der Feldherrnhalle seinen Ursprung hat. Sie knallte also an der kleinen Nonne vorbei, kaufte eine Kerze, zündete sie an, dann verharrten sie etwas, sie mit gefalteteten Händen und er mit ihrer Tüte in der Hand -
und verliessen vor mir die Kirche. Ich ging, wie man das so macht, wenn man die besonderen Reize hier kennt und auf das Gewühl auf der Theatinerstrasse verzichten möchte, quer durch den Hof, blieb vor den Schaufenstern hängen, verzichtete wegen akuter Überfüllung - ich hatte mir vorher schon zwei Bände Wiener Fastenpredigten von 1796 gekauft - auf einen Besuch bei Arzmiller, und machte mich dann auf den Weg zum englischen Bücherladen der grossen Kette, die ich ansonsten wie die Pest meide. Allein, ich brauchte die Worl of Interiors, ergatterte dort das vorletzte Exemplar, und als ich das Geschäft verliess, war das Paar aus der Theatinerkirche vor dem Schaufenster, in dem immer noch, säuberlich beschriftet, die Geschenkvorschläge des vergangenen Festes zu sehen waren. Sie redeten. So laut, ordinär hätte meine Grossmutter gesagt und damit wie immer recht gehabt, so laut also, dass man ihnen kaum das in der Kirche gezeigte Decorum hätte zutrauen wollen, und zwar so -
Sie: Das Buch wäre wäre wirklich was für Tante B.
Er: Von einer Cancer Foundation. Cancer hat sie doch schon.
Beiderseitiges, silberhelles Lachen.
Und gingen hinüber, in das Cafe des Literaturhauses.
Es gbt sehr gute Gründe, warum man heute von den besseren Kreisen in der Vergangenheitsform reden sollte - wobei es auch sein kann, dass sie in der Form, wie man das in Sonntagsreden von der guten alten Zeit unterstellt, nie existiert haben. Die Rituale, der eingetrichterte Glaube, besonders an die Belohnung für die Kerzen, das Standesbewusstsein und dessen Dünkel, alles, was man so deutsche Sitten nennen möchte, ist auch Dekaden nach Einführung des Privatfernsehens noch da. Aber es sind Riten, die jeden Inhalt längst verloren haben, Verhaltensfassaden, hinter denen das Lecktmich-Bewusstsein steht, das eine gesamtgesellschaftliche Klammer zwischen allen Schichten ist. Deutsche Sitten und Tugenden, was soll das bitte sein? Die Sekundärscheisse, mit der man auch ein KZ betreiben kann, wie es Oskar L. mal auszudrücken beliebte?
Und ich klinge langsam wie der Depp, der die Fastenpredigten von 1796 geschrieben hat.
Wann immer ich mich aber mit einem von ihnen traf, besuchten wir zuerst, wenn man so will, das Hauptgeschäft: Die Theatinerkirche selbst. Wie manche gewohnheitsmässig an der Residenzstrasse die Nasen der Löwen vor dem Palasteingang bereiben, ging man hier in die Kirche und zündete hinten links eine Kerze an. Und als ich heute, zur Auffrischung der Erinnerung und des kunsthistorischen Wissens, mich durch die enge Pforte in das schon dunkle Kirchenschiff gedrückt hatte, war dort eines dieser mitteljungen Paare, wie es sie nur in solchen besseren Gegenden gibt, er Consultant, sie Reiterin, idealtypisch in Kleidung, Aufmachung und Verhalten, und dazu knallten ihre Stiefel auf dem Marmor, als ginge es darum, den Klang von 33 wiederzubeleben, der draussen vor der Feldherrnhalle seinen Ursprung hat. Sie knallte also an der kleinen Nonne vorbei, kaufte eine Kerze, zündete sie an, dann verharrten sie etwas, sie mit gefalteteten Händen und er mit ihrer Tüte in der Hand -
und verliessen vor mir die Kirche. Ich ging, wie man das so macht, wenn man die besonderen Reize hier kennt und auf das Gewühl auf der Theatinerstrasse verzichten möchte, quer durch den Hof, blieb vor den Schaufenstern hängen, verzichtete wegen akuter Überfüllung - ich hatte mir vorher schon zwei Bände Wiener Fastenpredigten von 1796 gekauft - auf einen Besuch bei Arzmiller, und machte mich dann auf den Weg zum englischen Bücherladen der grossen Kette, die ich ansonsten wie die Pest meide. Allein, ich brauchte die Worl of Interiors, ergatterte dort das vorletzte Exemplar, und als ich das Geschäft verliess, war das Paar aus der Theatinerkirche vor dem Schaufenster, in dem immer noch, säuberlich beschriftet, die Geschenkvorschläge des vergangenen Festes zu sehen waren. Sie redeten. So laut, ordinär hätte meine Grossmutter gesagt und damit wie immer recht gehabt, so laut also, dass man ihnen kaum das in der Kirche gezeigte Decorum hätte zutrauen wollen, und zwar so -
Sie: Das Buch wäre wäre wirklich was für Tante B.
Er: Von einer Cancer Foundation. Cancer hat sie doch schon.
Beiderseitiges, silberhelles Lachen.
Und gingen hinüber, in das Cafe des Literaturhauses.
Es gbt sehr gute Gründe, warum man heute von den besseren Kreisen in der Vergangenheitsform reden sollte - wobei es auch sein kann, dass sie in der Form, wie man das in Sonntagsreden von der guten alten Zeit unterstellt, nie existiert haben. Die Rituale, der eingetrichterte Glaube, besonders an die Belohnung für die Kerzen, das Standesbewusstsein und dessen Dünkel, alles, was man so deutsche Sitten nennen möchte, ist auch Dekaden nach Einführung des Privatfernsehens noch da. Aber es sind Riten, die jeden Inhalt längst verloren haben, Verhaltensfassaden, hinter denen das Lecktmich-Bewusstsein steht, das eine gesamtgesellschaftliche Klammer zwischen allen Schichten ist. Deutsche Sitten und Tugenden, was soll das bitte sein? Die Sekundärscheisse, mit der man auch ein KZ betreiben kann, wie es Oskar L. mal auszudrücken beliebte?
Und ich klinge langsam wie der Depp, der die Fastenpredigten von 1796 geschrieben hat.
donalphons, 00:35h
Sonntag, 6. Januar 2008, 00:35, von donalphons |
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realmadscientist,
Sonntag, 6. Januar 2008, 03:21
Der kulturelle Firnis, der uns zart überdeckt, wird stark überschätzt.
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loreley,
Sonntag, 6. Januar 2008, 10:49
Das könnte das selbe Paar gewesen sein, das den Tennisplatz erst freigegeben hat, nachdem ich was gesagt habe. Sie wollte sich bei ihrem koketten Rumgealbere mit ihm nicht stören lassen. Kein Blick, kein Gruss, kein Garnichts. Spielen konnten sie auch nicht. Manche Leute sind so mies, dass man es kaum fasst.
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donalphons,
Sonntag, 6. Januar 2008, 12:35
Ich nehme an, Du hast sie vom Platz gefegt :-)
Ansonsten sind wir einen weiten Weg gegangen. Man muss heute keine Waffen tragen, wenn man von München nach Innsbruck will. Im Wald sind keine Räuber mehr. Das ist doch schon mal was. Ausserdem sind Ketzerverbrennungen auf dem Rückzug.
Ansonsten sind wir einen weiten Weg gegangen. Man muss heute keine Waffen tragen, wenn man von München nach Innsbruck will. Im Wald sind keine Räuber mehr. Das ist doch schon mal was. Ausserdem sind Ketzerverbrennungen auf dem Rückzug.
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usedomer,
Sonntag, 6. Januar 2008, 10:47
Der Anteil an Barbaren dürfte in allen Kreisen ziemlich gleich sein und das schon immer, es kommt halt nur in verschiedenen Facetten zum Vorschein.
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donalphons,
Sonntag, 6. Januar 2008, 13:02
Oben ist es halt unterhaltsamer, manchmal. Da kann man auch mit einem Geschenk oder einem Kompliment die miese Drecksau geben.
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polaris,
Sonntag, 6. Januar 2008, 11:12
Ich vermute, Sie sprechen von "Herzensbildung".
Die tritt unabhängig von Kontostand und Stammbaum auf.
Die tritt unabhängig von Kontostand und Stammbaum auf.
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donalphons,
Sonntag, 6. Januar 2008, 12:58
So weit muss es noch nicht mal gehen. Ich denke an eine Grenze zwischen dem, was geht, und dem, was nicht mehr geht. Und daran, dass offizielle Manieren alleine zwar wichtig, aber bei weitem nicht alles sind. Hezensbildung ist ein viel zu grosses Wort für Selbstverständlichkeiten.
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first_dr.dean,
Sonntag, 6. Januar 2008, 14:51
Dass in den Wäldern keine Räuber mehr hausen, muss man nicht unbedingt als Fortschritt empfinden, denn damit entfällt ein natürliches Regulativ, welches den Spitzen der Gesellschaft von Zeit zu Zeit den Schmuck vom Leibe reißt. Nun, wie auch immer: Sie sind Begünstigte des Schicksals, müssen heute keine in Wäldern hausenden Räuber mehr fürchten, aber sie fürchten sich umso mehr und umso greller vor denen, die wenig oder sogar garnichts haben. Die fehlende Herzensbildung wird beim nächsten Charity-Event locker-leicht wettgemacht, und sie lachen über diejenigen, die es in sozialen Angelegenheiten (z.B. Projekte für Migrantenkinder) tatsächlich Ernst meinen. Papst Ratzinger halten sie für einen der größten Intellektuellen der heutigen Zeit, aber eigentlich ist ihnen das auch egal, solange sie nur vom Plebs verschont bleiben.
My name is cancer.
My name is cancer.
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polaris,
Sonntag, 6. Januar 2008, 14:52
Für mich findet "Herzensbildung" auf allen denkbaren Ebenen statt...oder eben nicht.
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sugardaddy,
Sonntag, 6. Januar 2008, 18:03
Der große Schock des 20. Jahrhunderts ist die Erkenntnis, daß Bildung nicht vor Barbarei schützt.
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donalphons,
Sonntag, 6. Januar 2008, 18:33
Man beginnt, an der Aufklärung zu zweifeln. Und das Internet macht es auch nicht viel besser.
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first_dr.dean,
Sonntag, 6. Januar 2008, 19:20
Ein Faktor ist es m.E., dass Medien zunehmend als Instrument der Mächtigen und weniger als Machtkontrolle begriffen und eingesetzt wurden. Das führte - in anderen Ländern noch mehr - zur einer Form der informationellen Verwahrlosung. Dazu kommt eine, sorry für das Wort, die moralische Verwahrlosung unserer Eliten. Macht als Selbstzweck. Was dagegen hilft? Machtkritik.
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