Grob gesagt

ist es so: Die Bevölkerung der Provinzstadt ist bis heute durch den Wohnort sozial determiniert. Früher, im 19. Jahrhundert, war es wichtig, ein möglichst grosses Haus in den besseren Vierteln der Stadt zu haben. Diese simple Regel teilte die Bevölkerung in 10% Besitzende, die mehr hatten, als man zum Leben braucht, 30% Habende, die ihren Wohnraum besassen, und 60%, die in den grossen Häusern der Besitzenden die oberen, schlechteren Stockwerke mieten musste. Es gab unter ein und dem selben Dach Kinder, die mit Goldmünzen Schusser spielten, und andere, die in Besenkammern schliefen. Der Besitz von grossen Häusern in der Stadt ist heute, in Zeiten der Mieterrechte und des Anspruchsdenken kein wirkliches Kriterium mehr. Das Kriterium ist heute, ob man zu Fuss zum Naherholungsgebiet im Auwald gehen kann, oder ob man mit dem Auto fahren muss.



Dieses Areal entstand aus dem Kiesabbau im Eichenwald, der bis heute die Ufer des grossen Flusses ziert. Es wurde Anfangs der 70er Jahre zu einer grossen, nur manchmal von den örtlichen Tennisclubs durchbrochenen Seenlandschaft aufbereitet, und damit zu einem Anziehungspunkt für die gesamte Stadt. Ein schmaler Streifen Land entlang des Überflutungsgebietes wurde zur Bebauung freigegeben, und die Grundstückspreise sowie gewisse, historisch bedingte Beziehungen der Verkäufer garantierten, dass man hier unter sich blieb. Und so gab es Kinder, die nach der Schule mal schnell schwimmen oder Tennis spielen gingen, und andere, die dort nur schlecht hinkamen, weil es natürlich nur Schulbusse für die Anwohner gab, und es mit dem Fahrrad schon ziemlich weit war.

Aus den Kindern wurden Erwachsene, aus den Fahrrädern wurden Autos, aus den schlechteren Vierteln wurden Viertel mit Doppelhaushälften, was nach Ansicht mancher weniger als die Summe der einzelnen Teile ist. Diese Leute wohnen immer noch am See, auf 200 Quadratmeter aufwärts, und machen von der Haustür aus Nordic Walking auf dem Uferweg. Es sind ja nur fünf Minuten, und über diejenigen von ausserhalb, die in sich in ihren Blechhaufen über die enge Strasse zu einem viel zu kleinen Parkplatz quälen, könnte man eigentlich nur lächeln, wenn man die zur Kenntnis nehmen würde. Tut man aber nicht, denn man kennt nur wenige Leute, die nicht in diesem Viertel wohnen. Der See gehört allen, aber manche haben ihn immer, und andere nur, wenn sie sich den ganzen Stress mit der Parkplatzsuche antun, die auch Ende November noch eine Qual ist.



Natürlich lässt sich diese Regel nicht immer und auf jeden anwenden. Natürlich sind diejenigen, die aus ihren Doppelhaushälften oder Mietwohnungen mit dem TT an den See kommen, keine Grattler - würde hier auch niemand behaupten. Aber es ist eben doch etwas anderes, da ist man sich hier ziemlich sicher. Keine endgültigen Vorurteile, ach was, denn die beiden Viertel beim See sind viel zu klein, um wirklich alle aufzunehmen, die wohlhabend oder vermögend sind. Am Krankenhaus und dem daneben liegenden Golfclub, in einem Dorf weiter westlich, das ebenfalls so einen See hat, gibt es ähnliche Leute und vergleichbare Häuser. Aber wer zu Fuss zum See gehen kann, ist der sicheren Seite, und bei den nicht laut bezifferten 10%, denen man angehören sollte, wenn man hier etwas gelten will.

Montag, 22. November 2004, 14:50, von donalphons | |comment

 
Und bitte kein Neid -
immerhin muss heute kein Kind mehr mit Tuberkolose in der Besenkammer sterben. Das sind echte Fortschritte zur egalitären Gesellschaft!

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Das ist ein echter Vorteil von Berlin
An die Seen drumrum kommt man mittels BVG.
Und ich bin ein echter Fan des Strandbad Wannsee und des Liebnitzsee und so. Leider ist es in berlin dann aber im Winter so kalt das man das eben nicht mehr geniessen kann. Egal, bin ja in London.

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Vorteil für wen?

Na egal, immerhin gibt es Schwanenwerder (mit Schranke).

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Enklaven im Freistaat?
Sachen gibt's.
Scheint so, als wolle man den Freistaat "im Kleinen" bereits befreien. Als gutes Beispiel quasi voran gehen. Um später mit Unterstützung aus dem Maximilianeum den Erstschlag zu wagen... ;-)

Bin ich froh, dass in unserer Gegend diese Zustände noch nicht herrschen.
Oder ich habe sie noch nicht gefunden.

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Hier gab es nie andere Zustände, und sie werden auch so bleiben. Mein Clan macht das hier schon 170 Jahre mit, und es gibt keinen Grund, warum sich das ändern sollte.

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Haben sie was gegen 200 qm aufwärts? Das ist doch der einzige Fortschritt, den wir seit dem Mittelalter haben: Nicht nur Könige können sich ein wenig Raum zum wohnen leisten.

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Ich halte 200 qm für 2 Personen für vielleicht etwas zu gross, aber was solls, wer hat, der hat, stört ja nicht weiter. Schlimmstenfalls macht man halt noch ein Musikzimmer für das Klavier, auf dem keiner spielt.

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ein weiterer Vorteil: 200 qm und mehr sauber zu halten erfordert doch schon die Bereitstellung eines 400 Eurojobs. Vielleicht nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber hochgerechnet auf alle 200 qm + Wohnwelten...

Aufschwung, hier kommt er!

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Das machen die meisten hier noch selbst; Putzfrauen gelten hier noch nicht wirklich als fein. Es ist eher ein Zeichen der Verlotterung.

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Wenn ich wieder in D bin
kommen mir wahrscheinlich 20 qm wohnraum fuer eine person schon gross vor. Oder ein Doppelbett.

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Re-branding
Putzfrauen, also Don, bitte. (Vorwurf-Tag)

Im Zeitalter des managed contents und der Anglizismen heißt das doch Raumpflegerin als Mindestanforderung.
Oder Senior Floor Administration Manager, wenn man sein Geld in der NE versenkt hatte.

Noch Fragen, Hauser?

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@pathologe
Man merkt, dass sie keine 200+ qm haben. 400-Euro-Job? Das wird schwarz erledigt. Vorzugsweise von einer Polin mit VWL-Abschluss.

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Hier in Bayern heisst das eben noch Putzfrau, oder Zugehfrau. Schwarzarbeit ist dagegen relativ selten; lohnt sich nicht bei den Gesetzen. Es findet sich ja immer eine Chance, das von der Steuer via Home Office abzusetzen - wiegesagt, wenn man das hat.

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Fifi, Platz!
...und dann sind entweder anschließend 20 qm Platz da
...oder Fifi macht BUMM!

Egal, 200qm sind einfacher sauber zu halten als vollgestopfte 20qm. Und Putzfrau könnte ich auch brauchen. Meinetwegen auch Raumpfleger/in, aber mit Putzfrauenpreis. Nur: Wer eine Putzfrau braucht, hat meist Zustände, in die man keine bayrische Zugehfrau - die es nachher allen Nachbarn erzählt - reinlassen will.

Aber vielleicht tuts auch ein gebrauchtes Lanu?

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Ein norddeutsches Ingolstadt
gibt es zwar nicht (vom Lebensstandard her könnte das Hamburg-Blankeneese sein, aber das ist zu wenig provinziell), aber etwas, das, gemessen an dem insgesamt niedrigeren Lebensstandard Niedersachsens gegenüber Oberbayern dem nahekommt: Celle. Dies ist eine Stadt der Herrenreiter, der Jagdpächter und der Heidehofbesitzer, aus deren Perspektive die Besitzer eines Rustico in der Toscana eben immer noch unkultivierte Linkschaoten sind. Der Heidehausbesitzer hat ein nordisches Herrenhaus mit gekreuzten Pferdeköpfen am Giebel, und in der weitläufigen ländlichen Umgebung haben Botschafter, Konsuln, Gestütsbesitzer und Großreeder ihre Häuser. Der zweitberüchtigste Hochsicherheitsknast nach Stammheim ist vor Ort (früher kalauerten wir: "Wenn sie uns erwischen, ist Zelle mein Stamm-Heim".), und die Cellenser gelten als die spießigsten Leute Niedersachsens.

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Nachtrag
Oha, zu früh losgeschickt! Und es ist kein Zufall, dass sowohl GNT als auch Halliburton Deutschland hier ihren Sitz haben und es zwischen beiden scheinbar sogar eine personelle Verbindung gibt.

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@che
Ich fühle mich ertappt. Während ich das hier schreibe, sitze ich in einer Jugendstilvilla in Celle, direkt an der Aller - nein, nicht meine, ich bevorzuge Pferdeköpfe am Giebel.

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@ hella: Nein, es reicht leider nicht für 200qm. Und auch nicht für die Zugehfrau. Obwohl, als Statussymbol kann man sich doch auch eine leisten. Die den ganzen Tag sich langweilt, weil es nichts zu tun gibt. Sozusagen als Reputation, dass man nicht selbst vor den Nachbarn prahlt. Man lässt prahlen.

Und Pferdeköpfe: lieber am Giebel als auf dem Kopfkissen...

@ che:
die Website von GNT hat sich aber eklatant geändert, seit ich das letzte Mal nachsah!

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@hella:
ROFL!!!!

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@pathologe
In der Tat.

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@che
Was sind wir für konservative Spiesser geworden...

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@hella
Partiell. Zumindest lebe ich noch immer anders als die wirklichen Spießer. Wenn ich alles dicke bekomme, kann ich auch noch immer hinschmeißen und in eine WG im Ostertorviertel ziehen. Aber da muss schon sehr viel passieren, ehe ich so weit bin....

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Richtig. Was wir mit unserer Patch-Work Berufsbiographie gelernt haben ist nicht an etwas festzuhalten, Zelte abbrechen zu können und sich neu zu orientieren. Da ist unsere Generation sehr speziell (wenn ich mal so sagen darf): Wir haben von unseren Eltern die Achtung für Werte und Geschichte geerbt, aber auch die Kurzlebigkeit von Trends und Märkten hautnah erfahren. Nicht so wie die 20-35-jährigen, die Angst haben, ihren Koffer aus dem sie leben überhaupt auszupacken.

Übrigens: Nichts gegen Celle. Heute eröffnet hier eine Subway-Filliale. Wird in der Mittagspause angetestet. Und für die Nicht-Niedersachsen: Celle hat 70.000 Einwohner und ist die mit Abstand grösste Stadt zwischen Hannover, Hamburg und Bremen. Die Heide ist halt dünn besiedelt. Nicht so wie das Munich-Area.

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Nichts gegen etc:
Und auch Ingolstadt hat andere Seiten als die von Don beschriebenen. Es geht darum, Finger auf Wunden zu legen, um aufklärerisch zu wirken, aber nicht darum, die Wunden mit dem Körper zu verwechseln.

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