: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Mittwoch, 29. Dezember 2004

Real Life 29.12.04 - Stützen der Gesellschaft

Es könnte Yvonne sein. Und obwohl alles in mir hofft, dass sie nicht Teil dieses Worst Case Szenarios ist, das da durch die schmale Gasse meiner Heimatstadt auf mich zukommt, weiss ich innerlich längst, dass sie es ist. Es sind ihre Augen.

Yvonne war Teil eines Kreises von Schülern, die sich jeden zweiten Freitag bei einem Deutschlehrer meines Gymnasiums trafen, um über Literatur zu sprechen. Der Kreis stand allen offen, aber wie es nun mal in der Provinz ist, fanden sich dort viele Sprösslinge dessen ein, was man allgemein als die besseren Kreise bezeichnet. Also der Leute, die froh waren, wenn sich ihre Kinder im zarten Alter von 15 Jahren nicht auf 70PS-Enduros Verfolgungsjagden mit der Polizei in der Altstadt lieferten - was Yvonnes Bruder tatsächlich gemacht hat, und damit eher unfreiwillig dafür sorgte, dass sein Clan auch bei den niedrigeren Schichten der Stadt plötzlich ein gewisses Renommee erhielt.

Yvonne war das Gegenteil ihres kleinen Bruders, und sehr den Büchern zugetan. Ihre Leidenschaft ging leider eher in Richtung Goethe denn zu Heine, Gide und Stendhal, die zu dieser Zeit wegen ihrer libertinären Einstellungen bei den jungen Herren sehr beliebt waren. Yvonne überstand diese Wellen der Aufklärung, indem sie diese Bücher immer nur anlas, ein paar Worte darüber verlor, dass sie leider so viel lernen musste, und den Rest der Nachmittage damit zubrachte, die Reinkarnation der perfekten, klassizistischen Upper-Class-Prinzessinnen darzustellen, von denen unsere Literaturheroen der vergangenen Jahrhunderte so schwärmten. Allerdings liess Yvonne nie einen Zweifel daran, dass sie die lockeren Sitten der Literaten so ablehnte, wie es ihrer Herkunft aus einem Geschlecht angesehener Apotheker entsprach.

Da sass sie also, immer hoch aufgerichtet mit ihren strahlend blauen Augen auf dem Sofa, hatte inhaltlich nicht viel beizutragen, schaffte es aber, sich wegen ihres Rattenschwanzes an Verehrern in den Mittelpunkt zu stellen. Schliesslich gab es auch andere junge Männer, die ihre Ansichten zu Anstand, Moral und Fortbestand des goldenen Zeitalters der Bürgerlichkeit teilten. Wir, die wir bald Tempo lesen sollten und schon damals den Drang verspürten, dem geistigen Morast unserer Heimat zu entkommen, sahen in Yvonne nie mehr als ein geeignetes Objekt, um zu testen, wie man Frauen zum Erröten bringt; andere hingegen applaudierten ihrem Lebensziel, später mal die Apotheke ihrer Eltern zu übernehmen und somit ebenfalls in den gesellschaftlichen Olymp der Provinz vorzustossen, und wähnten sich dabei an ihrer Seite.

Pech für sie, dass ich der Einzige war, der fast den gleichen Heimweg wie Yvonne hatte. Nachdem sich unsere Eltern die notwendigen Besuche abgestattet und sich gegenseitig ihrer alten provinziellen Abstammung sowie des umfangreichen Besitzes an Immobilien, Gärten, Bäumen, Kachelöfen und Rosenthalgeschirrs versichert hatten, wurde ich gebeten, jedesmal die Tochter abzuholen und auch wohlbehalten wiederzubringen. Ihren endurogeschädigten Eltern erschien ich als passionierter Radfahrer die ideale Begleitung, und der Ruf meiner Familie versprach dümmliche Vernunft in Kant´schem Sinne; vieles, was später kommen sollte und schon angelegt war, war schlichtweg jenseits ihrer provinziellen Vorstellungswelt. Yvonne war ein Fräulein und wirklich schön, und konnte nun mal nicht ungeleit nach Hause gehn.

Manchmal, im Sommer, lieferte ich sie zeitig ab, aber an der Ecke vor ihrem Haus verweilten wir noch und spachen mal über unsere Katzen, und manchmal über die Zukunft, ihre Verehrer und das, was aus ihr mal werden würde. Da war etwas in ihr, das das andere Leben jenseits der Provinz kennen lernen wollte. Vielleicht war es auch nur der romantische Wunsch, vom weissen Ritter entführt zu werden, aber sie hörte zu, gab ein paar schüchterne Antworten, blieb, verweilte und ging nicht, was mir zeigte, dass die Saat meines Bemühens auch auf dem kargen Boden des besseren Viertels nicht ohne Früchte blieb. Die Apotheke, das Kind, den einen Mann für immer, die einzige grosse Liebe, das wollte sie eigentlich schon, aber manchmal eben nur eigentlich... sie wusste, dass es nicht nur eine, sondern unendlich viele Alternativen gab.

Später dann, in München zu den grossen Zeiten des Parkcafes, als ich selten vor 12 Uhr auf der Strasse anzutreffen war, sorgten ihre Eltern dafür, dass sie während des Pharmazie-Studiums in einem katholischen Wohnheim landete - dem Strengsten aller Wohnheime. Ich schaffte es unter Umgehung aller dort genau geprüften Regelungen zwei Mal, sie durch die Münchner Nacht bis zum Licht des nächsten Tages zu schleifen - Parkcafe, BaBaLu, Wunderbar, Nachtcafe. Sie sah, sie erlebte die Optionen, und diese beiden Nächte gab sie sich alle Mühe, als lebenshungrige Tochter aus besserem Haus zu erscheinen. Sie kann es, sie weiss, dass es da draussen weiter geht. Beim zweiten Mal wäre es wegen der Wohnheims-Gestapo beinahe in einer Katastrophe geendet, aber als die schwarzen Krähen bei ihren Eltern Alarm schlugen, waren die eher beruhigt. Selbst im Worst Case wäre es eben der junge Alphonso Porcamadonna gewesen, von dem man damals noch erwartete, dass er dem angesehenen Porcamadonna-Clan nachgeraten würde. Yvonne absolvierte das Studium zielstrebig, ging dann zurück in die Provinz, und mich verschlug es in ein ganz anderes Leben, das nur selten von sporadischen Besuchen in der Provinz unterbrochen ist, so wie heute.

Es ist Yvonne, vor ihr ein dreirädriger, sportlicher Kinderwagen mit Inhalt, neben ihr ein Mann mit den typischen kurzen Beinen und breiten Hals der Provinz. Ihre Augen leuchten noch immer, aber ansonsten - früher fand ich ihre langen Haare langweilig und spiessig, jetzt, so aufgewuscht und kurz, wünsche ich sie mir zurück. Wir tauschen die letzte Dekade über das quengelnde Balg und den frierenden, sich erkennbar blöd und überflüssig fühlenden Typen an ihrer Seite hinweg aus. Das heisst, ich erzähle von meinem Leben, den Städten, der Freiheit, zu entscheiden und sich jeden Tag neu zu definieren; sie spricht von Apotheke, die sie übernimmt, dem anstrengenden Haushalt und dem wahrscheinlich auch nicht gerade einfachem Kind. Der Typ, der mehr einem Bauern denn einem Hidalgo gleicht, wird mir noch nicht mal vorgestellt, was nach den Regeln der besseren Gesellschaft ein deutliches Zeichen für Risse in ihrer Beziehung ist. Vielleicht hat er auch nur heute nicht abgetrocknet, wer weiss. Ich verspreche, dass ich vorbei kommen werde, und ihr mein Buch bringe. Sie wird es vielleicht lesen und denken, dass wir da draussen, ausserhalb ihrer Welt der Stützen der Gesellschaft, auch nicht glücklich sind.

Womit sie nicht Unrecht hat, als ich durch die engen Gassen zu Stammhaus meines Clans gehe. Aber was soll´s, es ist doch immer die gleiche Geschichte. Vergiftet sind meine Lieder, wie könnt es anders sein? Da hast mir ja Gift gegossen ins blühende Leben hinein - sagt Heine.

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Real Life 28.12.04 - Natura morte

oder das langsame Versacken in der Provinz. Es gibt Leute, die mein Verhalten nicht verstehen: Wann immer ich auf Flohmärkten oder in Antiquitätengeschäften bin, steuere ich zielsicher auf alte Kerzenhalter aus den Epochen vor der Elektrifizierung zu; und wenn sie mir leisten kann, nehme ich sie auch mit. In meiner Wohnung in unserem Stadthaus gibt es schon derer zehn; sechs im Hauptraum, zwei im Gang und zwei weitere im Bad.

Warum es nicht zu viele sind, zeigt sich an Abenden wie heute, wenn man die Tafel bereitet, mit frischen badischen Eiernudeln und würzigem Gouda, in Butter gedünsteten Austernpilzen und milden Zwiebeln, dazu Feldsalat mit Öl und altem Balsamico und eine Kanne Assamtee.



Denn genau dann, wenn man die Nudeln servieren will, kommen die Nachteile des Bauwerks zum Vorschein, in dessen oberstem Geschoss man sich befindet. Mit einem Schlag ist der Strom weg, irgendwo ausgeknipst zwischen den Bauperioden des 14. und 16. Jahrhunderts. Wenn man dennoch in Ruhe essen will, ohne bis zum Erkalten der Speisen durch die Strom- und Verteilerkästen zu kriechen - dann ist verständlich, warum man so viele Kerzenhalter sein eigen nennt. Dieses Szenario ergab heute letztlich nur ein hübsch abzusehendes Natura Morte, aber es gibt auch schlimmere Situationen, in denen man ohne Kerzen verloren wäre: Nachts beim Stromausfall unter der Dusche stehen etwa, oder endlich den nackten Rücken einer Frau zu sehen bekommen, auf den man schon so lange gewartet hat. Alles schon erlebt und überstanden. Und deshalb stürze ich mich auch weiterhin auf jeden Kerzenhalter, den ich kriegen kann.

Denn die Wege des Stroms sind in provinzieller Bausubstanz des 16. Jahrhunderts unergründlich, wie auch in Bauten der 20er Jahre in Berlin.

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