: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Sonntag, 6. Januar 2008

Deutsche Sitten

Ich war noch nicht lang in München, als ich eine Familie kennenlernte, die man vor 100 Jahren vielleicht als Angehörige der besseren Kreise bezeichnet hätte. Vom Schlafen im Lehel abgesehen, hätte ihr Leben auch komplett im ehemaligen Kreuzgang der Theatinerkirche stattfinden können, vom Feinkostladen über Arzmiller zum Antiquitätengeschäft mit seinen üppigen Silberangeboten, dann weiter zum Herrenausstatter, während die Damen zum Friseur gingen. Für Menschen ohne grosse finanzielle Sorgen ist das Geviert eine Art Mikrokosmos, dem damals nur ein Buchladen fehlte. Theresa lag damals noch gegenüber, und später würden sie ihren Herrenladen strategisch günstig zwischen Innenhof und Hauptgeschäft platzieren - schau, Max, der Anzug, der wäre was für dich.

Wann immer ich mich aber mit einem von ihnen traf, besuchten wir zuerst, wenn man so will, das Hauptgeschäft: Die Theatinerkirche selbst. Wie manche gewohnheitsmässig an der Residenzstrasse die Nasen der Löwen vor dem Palasteingang bereiben, ging man hier in die Kirche und zündete hinten links eine Kerze an. Und als ich heute, zur Auffrischung der Erinnerung und des kunsthistorischen Wissens, mich durch die enge Pforte in das schon dunkle Kirchenschiff gedrückt hatte, war dort eines dieser mitteljungen Paare, wie es sie nur in solchen besseren Gegenden gibt, er Consultant, sie Reiterin, idealtypisch in Kleidung, Aufmachung und Verhalten, und dazu knallten ihre Stiefel auf dem Marmor, als ginge es darum, den Klang von 33 wiederzubeleben, der draussen vor der Feldherrnhalle seinen Ursprung hat. Sie knallte also an der kleinen Nonne vorbei, kaufte eine Kerze, zündete sie an, dann verharrten sie etwas, sie mit gefalteteten Händen und er mit ihrer Tüte in der Hand -



und verliessen vor mir die Kirche. Ich ging, wie man das so macht, wenn man die besonderen Reize hier kennt und auf das Gewühl auf der Theatinerstrasse verzichten möchte, quer durch den Hof, blieb vor den Schaufenstern hängen, verzichtete wegen akuter Überfüllung - ich hatte mir vorher schon zwei Bände Wiener Fastenpredigten von 1796 gekauft - auf einen Besuch bei Arzmiller, und machte mich dann auf den Weg zum englischen Bücherladen der grossen Kette, die ich ansonsten wie die Pest meide. Allein, ich brauchte die Worl of Interiors, ergatterte dort das vorletzte Exemplar, und als ich das Geschäft verliess, war das Paar aus der Theatinerkirche vor dem Schaufenster, in dem immer noch, säuberlich beschriftet, die Geschenkvorschläge des vergangenen Festes zu sehen waren. Sie redeten. So laut, ordinär hätte meine Grossmutter gesagt und damit wie immer recht gehabt, so laut also, dass man ihnen kaum das in der Kirche gezeigte Decorum hätte zutrauen wollen, und zwar so -

Sie: Das Buch wäre wäre wirklich was für Tante B.

Er: Von einer Cancer Foundation. Cancer hat sie doch schon.

Beiderseitiges, silberhelles Lachen.



Und gingen hinüber, in das Cafe des Literaturhauses.

Es gbt sehr gute Gründe, warum man heute von den besseren Kreisen in der Vergangenheitsform reden sollte - wobei es auch sein kann, dass sie in der Form, wie man das in Sonntagsreden von der guten alten Zeit unterstellt, nie existiert haben. Die Rituale, der eingetrichterte Glaube, besonders an die Belohnung für die Kerzen, das Standesbewusstsein und dessen Dünkel, alles, was man so deutsche Sitten nennen möchte, ist auch Dekaden nach Einführung des Privatfernsehens noch da. Aber es sind Riten, die jeden Inhalt längst verloren haben, Verhaltensfassaden, hinter denen das Lecktmich-Bewusstsein steht, das eine gesamtgesellschaftliche Klammer zwischen allen Schichten ist. Deutsche Sitten und Tugenden, was soll das bitte sein? Die Sekundärscheisse, mit der man auch ein KZ betreiben kann, wie es Oskar L. mal auszudrücken beliebte?

Und ich klinge langsam wie der Depp, der die Fastenpredigten von 1796 geschrieben hat.

... link (12 Kommentare)   ... comment


Empfehlung heute - Wie allgemein

bekannt sein sollte, hasse ich vor allem zwei Städte: Berlin und Wien. Zudem bin ich auch kein Freund des westbalkanischen Österreichs und des westsibirischen Preussens. Berlin und Wien sind jeweils die Spitze dieser Regionen, insofern passt alles. Und nächste Woche muss ich wieder nach Berlin. Momentan schaue ich bei Youtube Filme mit dem reizenden Baubestand des Mai 1945, in Technicolor, sieht so erfreulich aus wie die aktuellen Werbeausfälle bei Adical. Um mich wieder zu aklimatisieren. Dabei müsste es gar nicht so schlimm sein, denn so, wie Wien als nette Laune der Natur für eine garstige Stadt den Wienerwald hat, hat Berlin den Wedding. Dafür, dass er von Berlin umgeben ist, ist der Wedding echt ok. Ich muss es wissen, ich war anderthalb Jahre der bekannteste Weddinger Blogger. Da kann man nicht meckern. Und netterweise gibt es für mich Ex-Weddinger nun auch den Weddinger Landboten.

... link (20 Kommentare)   ... comment