: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Sonntag, 15. Mai 2005

Real Life 15.05.2005 - Berliner Republikende

Ihre Eltern sind zeitig gegangen. Sie wollten nur schnell sehen, ob die neuen Freunde ihrer Tochter auch ihren Vorstellungen entsprachen, bevor sie in ihr Hotel am Kurfürstendamm zurückkehrten. Immerhin haben sie es geschafft, aus Paris zu kommen und das Domizil ihrer Tochter zu besichtigen; deine Eltern sind stur in der Provinz geblieben und haben sich geweigert, andere Reiseziele ausser Oberitalien, Sizilien, Südfrankreich oder einen verträumten Winkel im südlichen Oberbayen überhaupt nur in Betracht zu ziehen. Vermutlich ist für Pariser Eltern, die via Charles de Gaulle einfliegen, der Kulturschock nach einem Transfer durch die verbotenen Zonen am Stadtrand nicht so gross; deine Eltern dagegen würden diretissime zum Flughafen fahren, durch völlig intakte, wohlhabende Bezirke der besseren Regionen eines reichen Bundeslandes - die Stadtautobahn A 100 ist aus dieser Perspektive die Stunde der Abrechnung für jedes zarte Gefühl der Ästhetik und Naturverbundenheit.

Das erzählst du auch der Gastgeberin, die dafür, wie eigentlich alle Gäste dieser Abschiedsparty, viel Verständnis hat. Eigentlich ist hier jeder nicht aus Neigung, sondern nur durch äussere Zwänge gelandet; die Stadt hat man mehr oder weniger bewusst in Kauf genommen. Für manche, 5000 Meilen entfernt, hatte Berlin auch einen magischen Klang. Der amerikanische Stipendiat zum Beispiel hat eine Grossmutter, die fast bis Ende der 30er Jahre hier lebte und als junge Frau viel politisches Ungemach einfach nicht verstanden hat. Er erwartete nach ihren Erzählungen eine mondäne Grossstadt mit aufregenden Impulsen. Mit einem verkommenen Slum, kriminellen Vermietern und der stupiden Ausbeutung bei einer amerikanischen Stiftung mit Sparzwang wegen des gepanzerten Benz für die Leiterin hatte er nicht gerechnet. Das angebliche Problem mit der Abrechnungssoftware der Stiftung, nach 4 Monaten Texte übersetzen und online stellen, mussten seine nicht wirklich begeisterten Eltern begleichen, die gedacht hatten, dass das Thema Zwangsarbeit in Germanien vorbei ist.

Auch erwartete der Stipendiat nicht, dass die Chefin der anderen Organisation, wo er sich danach bewarb, die Sache sofort seiner alten Chefin berichtete. Die Stadt ist in diesen Zirkeln sehr klein und gesprächig, und so, wie sich die Spitzen draussen auf dem Balkon der Akademie über dem Wannsee langweilen und die Anwesenheit des Cicero-Chefredakteurs ertragen müssen, sitzen die schlecht bezahlten Underdogs der internationalen Verständigung zusammen in einer halbausgeräumten Wohnung und zählen mit schlechter Laune die vielen Tage, bis sie zurück können.

Die Gastgeberin hat es hinter sich. Die Wohnung muss nur noch mal geputzt werden, dann geht es nach Hause. Die Getränke werden in Pappbechern gereicht, das Essen haben Lieferdienste gebracht, der Rest ihrer Sachen passt in ihr Auto, wenn es Ende nächster Woche losgeht. Sie hat darum gebeten, ihr nichts zu schenken, weil sie keinen Platz hat, aber niemand hat sich daran gehalten. Wenigstens habt ihr auf den riesigen Porzellanelephanten verzichtet, der bei den Überlegungen zur Verabschiedung auch mal kurzfristig eine Rolle spielte, in Erinnerung an ihr resolutes Auftreten bei einigen Stellen deutscher Ämter, deren stalinistisches Personal mit ihrer gallischen Unnachgiebigkeit und der konsequenten Freundlichkeit absolut nicht konnte. Hätte sie sie angeschnauzt, wäre es den Vorschriften gemäss gewesen. Leider hat sie dann die Todsünde begangen, Hierarchieebenen zu überspringen und bei einem Staatssekretär auf einer Party direkt während der Häppchen anzufragen. Von diesem Moment an half im Ämtersumpf nur noch hin und wieder ein externer Anrufer, der wissen wollte, warum das Amt die Arbeit der Franzosen behinderte... zu späterer Stunde habt ihr die Idee, dass man ein Buch machen sollte, Berliner Republik für Ausländer, ein Leitfaden für junge Verschollene. Manchmal überkommt dich auch die Lust, ein Schreiben an gewisse Ministerien oder Ländervertretungen meit "Heil H*tler" oder "Rotfront, Genosse!" zu unterzeichnen und zu schauen, ob da noch was anderes als die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Band zurückkommt.

Jetzt, da alles vorbei ist, kannst und darfst du das sagen. Da, wo die in diesen Räumen versammelten Menschen in 2, 3, 6 oder 12 Monaten sein werden, ist es vielleicht besser. Draussen geht schon seit Stunden der Regen nieder, der Hinterhof vor dem Fenster ist ein schwarzes, feuchtes Nichts, und die Nachtluft riecht nach Fäulnis. Kein Stern ist zu sehen, nur das schmutzigfahle Gelb der Lichter, die in die Wolken strahlen, ein maroder Helligkeitsbrei, ehe dann, sehr spät, draussen das erste Licht des Tages in dunklen Wolkenmassen versickert. Irgendjemand legt eine CD ein, aktuelles Zeug, und dann kommt ein Lied mit dem Refrain

"Oh my God I can´t believe it,
I´ve never been this far away from home."

Ihr sitzt auf dem Boden, ein Dutzend Nationen, Lebenswelten, Erfahrungen und Träume, ihr zu Ehren gut bekleidet, schön, jung, betrunken und ernüchtert, und ihr singt alle mit.

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