Die Must haves der jungen Leute

Zwischen Murnau und Salzburg, zwischen Rottach und Berchtesgaden zeigen sich die verheerenden Folgen der deutschen Rentenpolitik. Viel hat sich dort im letzten Jahr geändert: Die Preissteigerung bei Hotels, Restaurants, Eigentumswohnungen und Seniorenmalkursen hat sich deutlich verlangsamt. Die Krise bei den Rentnern mit nicht niedrigen Bezügen zeigt sich weniger bei den Confisserien, die weiterhin blauweisse Bierpralinen für 8 Euro auf 100 Gramm - oder 10 deka, wie es jenseits der Grenze heisst - erfolgreich anbieten, denn Mitbringsel laufen immer. Hart trifft es wohl das einheimische Handwerk, das seine grob geschnitzten Putti im Stil der hiesigen, wie Perlen über die Landschaft verstreuten Rokokko-Kirchen, immer seltener zu Preisen jenseits der 500 Euro an den Mann bringt. 500 Euro ist im Moment so eine Schmerzgrenze sowohl für Kunden als auch für Verkäufer, ganz gleich, ob es um fette Engel, Dirndl mit Puffärmeln für sie oder echte Hirschlederhosen in Massanfertigung für ihn geht.

Wie deine Eltern nach ihrem Kurzurlaub in der Krisenregion berichten, hat sich das fragile Gleichgewicht aber wieder hergestellt. Allerorten, von Seeshaupt bis Garmisch, hat man ein neues Wort entdeckt, das diese erbärmliche 500-Euro-Grenze atomisiert. Den armen Greisen, denen der brutale Staat alles bis auf ihre paar Wohnblocks, die Villa, zwei Autos, das Cabrio für den Sommer und die 10 Wochen Urlaub im Jahr wegnimmt, bekommen jetzt zwischen Lüstern und kleinen Silberdosen zu hören, dass das, was in diesem Geschäft gezeigt wird, "die Must haves der jungen Leute" sind.

Der im krisengeschüttelten Oberland kursierenden Legende zu Folge sind diese Must haves besagter junger Leute vor allem Silbergegenstände. Historistische Etagieren zum Beispiel. Fussschalen. Englische Silberkannen, eine Weile nicht wirklich begehrt, sind jetzt wieder wichtig für die jungen Leute. Es geht ganz sicher nicht mehr um den Versace-Protz, oder gar den Kolonialstil, diese Eiche Rustikal der New Economy, sondern wieder um klassische Werte. Biedermeier, Empire, historische Lackschränke aus China zum Aufbewahren der kleinen Preziosen. Das wollen die jungen Leute, wenn sie up to date sind. Daneben liegt die amerikanische Elle Decoration, die tatsächlich den Nachweis erbringt, dass sich dergleichen in den Räumen jüngerer Topmanager, Künstler und Berufskinder befindet. Es sieht aus wie in den südfranzösischen Villen der späten 50er Jahre.

Ausserdem, so sagt man, ist der venezianische Spiegel ganz gross im Kommen; ein Geschäft etwa weigerte sich sogar, ein Exemplar überhaupt anzubieten. Jedenfalls nicht unter 2000 Euro, wenn es denn unbedingt sein müsse und man dem aus dem badischen angereisten Ehepaar sie Freude machen könne - weil, gut, es stimmt schon, ohne so ein Must have der jungen Leute kann man eigentlich nicht nach Hause fahren, das verstand die Händlerin in ihrem Dirndlkostüm. Und gab dem Drängen nach, wie meinen Eltern dann beim letzten Galamenu erklärt wurde. Inzwischen sind die Käufer mit ihren Schätzen und dem SLK schon wieder daheim, ein paar Kilometer nördlich des Bodensees.

Und auch deine Eltern sind wieder da, und nein, gekauft haben sie nichts. Aber wenn du wieder in Berlin bist, könntest du schon mal nach einem silbernen Brotkorb schauen, und ein grosser, geschwungerer englischer Kerzenhalter hätte sicher auch noch Platz. So wie das eben in den Wohnungen der jungen Leute ist, oder besser: In den Vorstellungen, die man im Oberland von diesen Wohnungen hat. Du sagst ja, klar, mach ich, du wirst schon was Entsprechendes finden, und fährst, vorbei an schlafenden Katzen auf dem Gehweg, hohen Hecken und schmiedeeisenen Toren unter dem strahlend blauen bayerischen Himmel Richtung Norden.



Du hast einen Auftrag, ein Gespräch, ein Meeting, das ziemlich wichtig ist, und bist gedanklich nicht wirklich bei der Umgebung der Autobahn, die sich von der Provinz über das Fränkische, die Oberpfalz, den Thüringer Wald, die verrottende Brache um Leipzig bis hinein nach Berlin kontinuierlich verschlechtert. Du rumpelst über die Chausseestrasse zur Alten Lokfrabrik, wo früher die New Economy hauste, über Schlaglöcher und vorbei an den grossen Freiflächen, die die Landschaftsgestalter der Alliierten in dieser Stadt anstelle von dichter Wohnbebauung kreierten, und dazu fällt ein fieser, schmutziger Regen. In einem lichten Moment wunderst du dich, was zum Teufel du hier eigentlich verloren hast. Aus der Lokfabrik kommt ein Schwarm junger, bauchfreier Dinger in Rosa und himmelblau, ungepflegt, abgerissen und viel zu dünn, oder dem typischen, quellenden Speck einer falschen Ernährung. Das einzige Must have, das sie wahrscheinlich haben, ist ein Scheck, um die drei Monate Mietrückstand zu bezahlen.

Mittwoch, 6. April 2005, 13:24, von donalphons | |comment

 
Now to something total different
Was Hochhuth zum Zustand unserer Ökonomie und unseres Staates zu sagen hat, steht hier: http://environ.de/us/che/?postid=172

... link  

 
strongly recommended - wobei das hier in bezug auf die Revolution

"Davon ist aber noch nichts zu sehen.Weil es den Reichen wie den Arbeitslosen in unserem Land noch zu gut geht."

im Kern as gleiche sagt.

... link  

 
Rolf Hochhuth ist übrigens immer lesenswert. Ich wünschte, er könnte ein Stück oder ein Buch über den gerade in die Ewigkeit gegangenen "Stellvertreter" schreiben. Genug Stoff gäbe es ja.

Nebenbei: "And Now For Something Completely Different". SCNR. Ich bin Fan :-)

... link  

 
Jaja, irgendwann werden wir auch darüber reden, ob das Fregmentarische des fliegenden Zirkus nicht auch ein Vorbild für die Blogger ist - aber nicht der Tote Papagei.

... link  

 
MP als Vorbild für Blogger:
Witz, Anarchie, Ideen.
Respektlos respektvoll sein:
Auf den Schultern von Riesen sitzen
und ihnen die Ohren langziehen :-)

... link  

 
Au ja, ich mach das heilige Hangranate von Antiochia sichere Killerkaninchen

... link  

 
Mea maxima culpa und schreibe completely tausend Mal auf die Tempelmauer - war der abendlichen Müdigkeit zuzuschreiben!

... link  

 

... link  


... comment