: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Mittwoch, 27. April 2005

Real Life 26.04.2005 - Braun nach sechs

Sie ist noch lange nicht fertig, die braucht noch Zeit für die Auswahl der Kleider und schmückenden Beiwerke, mit denen sie im Nachtleben des Reichshauptslums overdressed sein will. Und das, obwohl sie die zwei Leisure Hours hatte, die du damit zugebracht hast, ihre Einkäufe zu verpacken und transportfertig für die grosse Reise nach München zu machen, wo sie bald den Überfluss ihrer schlossartigen Wohnung vergrössern sollen. Herr Miri wird den heutigen Tag in ehrender Erinnerung behalten, obwohl sein Silberschrank jetzt nicht mehr so üppig aussieht. Du selbst siehst auch nicht mehr wirklich üppig aus, immer noch in der Tageskleidung, helles, leichtes, knittriges Braun wegen des schönen Wetters, und während du im Aufzug ins Foyer hinunter fährst, siehst du dich in der Glasscheibe. Was du da siehst, ist unrasiert, etwas zerdrückt und nicht wirklich elegant. Dein Blick fällt nach unten in die Bar, und du bemerkst, dass sich die anderen an die Regeln halten: Nie in Braun nach sechs Uhr.



In Grossbritannien ist der Einschnitt des rituellen Tees am Nachmittags auch ein Hinweis, dass es für die Herren an der Zeit ist, sich des braunen Tagesanzugs, vielleicht sogar noch des Pepitas mit den Ellbogenschonern aus Samt zu entledigen, und sich in die früher meist kategorisch schwarze Abendkleidung zu begeben. Im heutigen Berlin hast du zur Teetunde einen üppigen venezianischen Spiegel durch die Bergmannstrasse geschleppt, nicht besser, aber um so eifriger vom ärmlichen Publikum begafft, als der Lakai, der den selben Spiegel um 1840 herum durch Venedig getragen haben dürfte. Es gab für schlichtweg keine Zeit für frische Kleidung, ausser einer kurzen Dusche und einem frischen Hemd, das als Relikt deiner Herkunft und sauber gefaltet mit den anderen in dieser Stadt unpassenden Hemden auf einem Stapel hofft, dass sein Besitzer auch weiterhin dem praktisch-hässlichen T-Shirt widersteht.

Du trägst also leicht zerdrücktes Braun, als du dich an die Bar setzt, umgeben von Dunkelblau, Dunkelgrau und Schwarz. Das Hotel ist voll mit Pauscheltouristen, die die Auslastungskatastrophe verhindern sollen, aber die sind nicht hier - zu teuer für einen kurzen Moment in dieser ungemütlichen Durchgangssituation. Was bleibt, sind die üblichen Spesenritter aus Deutschland; den Gesprächen zufolge viel Mobilfunk, IT und Dienstleistung. Du bist farblich und beruflich der Paradiesvogel unter ihnen, aber niemand stört sich daran, am wenigsten der Barmann, der dir den Drink ohne Verzögerung hinstellt. Viel ist nicht los; die meisten halten sich an halbleeren Gläsern fest, stehen in Grüppchen zusammen und unterhalten sich mit vorsichtigem Pessimismus. Sie haben es wieder geschafft, ihrer Firma die Unterbringung in diesem Hotel aufzuschwatzen, das zu den besten am Ort gehört und dennoch für Münchner Verhältnisse nur Mittelklasse ist. Glücklich sind sie deshalb nicht. Liegt vielleicht an dem akustischen Esoterikgeblubber in den langen, kalten Gängen, oder auch an der seltsam stickigen Luft. Der Drink ist nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut.

Du telefonierst zweimal mit ihr; das erste Mal hat sie schon die Dusche verlassen, und dann wählt sie schon die Schuhe aus, ahhhh, jetzt hat sie sich die Strümpfe zerrissen, das kommt, weil du sie so hetzt. Gerold, der in der Provinz ein paar Strassen weiter lebte, hatte eine ähnliche Schwester. Er wird heute von seinem Clan alkoholkrank von einer Suchtklinik in die nächste geschickt, immer unterbrochen von ein paar Monaten Pause, bis es wieder los geht. Vielleicht sass er auch zu oft an irgendwelchen Bars und hat auf seine Schwester gewartet. Vielleicht wurde aus ihm aber auch nur so ein Freak wie die Typen, die plötzlich in Dunkelgrau und Dunkelblau neben dir auftauschen und Becks bestellen, aus der Flasche, passt schon, nein, keine Gläser. Ohne sichtbare Rührung reicht ihnen der Barmann das Gewünschte. In den nächsten Minuten werden sie locker, der Daumen rutscht von der Tasche in den Hosenbund und bleibt auch schon mal dort, wenn ein anderer mit Handschlag begrüsst wird. Die Aufzüge spucken mehr und mehr dunkle Clons aus, alles Männer, allein in der Stadt, mit Hotelzimmern, in die man schlecht jemand mitnehmen kann, und so rotten sie sich zusammen, werden laut und trinken aus den Flaschen. Ziemlich viel. Du kannst dich nicht so auf die müden Fische über dir im Aquarium konzentrieren, dass du nicht Worte wie Open BC und networken verstehst. Es ist für sie gut, wie es ist. Sie sind unter ich, sie müssen nicht raus auf die Strasse, wo sie in die Hundehaufen treten könnten und die Firma nicht mehr für die Drinks und die "Weiber" - so einer knapp neben mir - bezahlt.

Sie bereden gerade, ob sie nicht besser in das Lokal nebenan gehen, dessen Name die Herkunft des gesamten Komplexes aus der Blütezeit der New Economy beweist. Dann öffnet sich die Aufzugtür, und sie kommt endlich heraus. Du bezahlst und sagst zu ihr: Das waren jetzt aber keine zwanzig Minuten.

Nein, höchstens eine Viertel Stunde, sagt sie, und schaut angeekelt zum lauten Haufen in dunklen Farben, der nach einer Stunde mit Becks aus der Flasche noch weniger akzeptabel ist, als Braun nach Sechs.

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