BrEcho

Mitte der 90er Jahre war ich mal auf Exkursion in Südtirol. Thema waren die vor- und frühgeschichtlichen Kulturen in einer Region, die unsereins als "retardiert" bezeichnet, der Fachterminus für hinterwäldlerisch und zurückgeblieben. Die Zeit zwischen den Epochen Hallstadt und La Tene, auch bekannt als Übergang von der Bronze- zu Eisenzeit, wird dort mit der Laugen-Melaun-Kultur gleichgesetzt. Laugen-Melaun ist eigentlich eine ziemlich traurige Sache mit wenig ansprechenden Funden, ganz im Gegensatz zu Resteuropa, das mit grandiosen Fürstengräbern (etwa in Hochdorf) aufwartet. Aber was soll man schon von einer Kultur erwarten, die sich mühsam an den Alpenabhängen zwischen Eisack und Etsch festklammern muss. Nicht wirklich übel, aber die dicken Dinger waren woanders: Norditalien, Ostfrankreich und Süddeutschland.

Laugen-Melaun, benannt nach zwei Gräberfeldern bei Brixen, saugt also. Es gab weder Fürstenhöfe, noch ordentliche Oppida, keine Grabhügel, und die Keramik als unscheinbar zu bezeichnen, ist eher ein Kompliment. Die typischen Krüge sind fett und ähneln entfernt dem, was man vielleicht von primitiven Klingonen als Trinkgefässe erwarten würde. Auch die namensgebenden Fundorte sind nicht wirklich prickelnd, wie jeder merkt, der mal das Gräberfeld von Melaun besichtigt: Eine Wiese bei einem Kaff am Abhang, fertig.

Da standen wir dann, hörten gelangweilt ein Referat nochmal an, das wir schon im Seminar gehört hatten, und sahen uns die Wiese an. Die Wiese als solche war grün, aber auch nicht übermässig grün, und wenn jemand gesagt hätte, Moment, die Wiese hier ist gar nicht das ehemalige Gräberfeld, dann hätte ich mir nichts dabei gedacht - und so kam es dann auch: Einer der im Referat beschriebenen topographischen Punkte wollte irgendwie so gar nicht passen, und dann kam auch noch ein Bauer vorbei, der genau wusste, dass wir an der falschen Wiese, 2 Serpentinen zu tief standen. Also gingen wir nochmal die Serpentinen hoch und standen an einer anderen grünen Wiese, die vollkommen nichtssagend war, und hörten das Referat nochmal an, das mit der gleichen Inbrunst wie zuvor die Einzigartigkeit dieser für die Laugen/Melaunkultur typischen Lage anpries.

Damals war ich Wissenschaftler und lachte nicht. Wissenschaftler lachen nie, und weil die Referentin als Zäpfchen einen warmen, angenehmen Ort im Podex einer leider zu früh verbeamteten, weil danach sofort stinkfaul und egoman werdenden Insitutsperson gefunden hatte, gab es auch keine Kritik.

Aber gestern habe ich den Echo etwas mitbekommen, und das alles hat mich sehr an diesen Sommernachmittag in Melaun bei Brixen auf der grünen Wiese erinnert. Letztes Jahr war man noch auf der anderen Wiese und fand sie wichtig, heute steht man bei der neuen Wiese und findet sie noch immer wichtig. Angeblich kam da mal was ganz Tollen raus, aber man muss schon ziemlich auf das Thema abgerichtet sein, um diese Serien protoklingonischer Furzmusik, die da aus dem Neuköllner Morast klangen, toll, bedeutend und als wichtigen Ausdruck von Kultur zu erfinden. Nächstes Jahr suchen wir uns für das neue Referat dann eine neue Wiese, hören gequälte, von der Notwendigkeit und der Scheine, des Scheins wegen wichtige Vorträge, und nennen das Ganze dann Popkultur. Deutsche Popkultur.

Und in 2300 Jahren werden irgendwelche debilen Professoren das Thema "Popkultur in Deutschland" raussuchen, das ausser ihnen keine alte Sau interessiert, dann zwischen "Rammsteinzeit" und "Julikult" differenzieren und mit ihren Studenten Exkursionen nach Berlin machen, wobei es ihnen wichtig sein wird, aus der mangelnden Standortkontinuität der Kultstätten Richtung Osten, Richtung Verwahllosung auf einen generellen Niedergang der Popkultur zu schliessen.

Kauft Euch Nachlader, An die Wand. Da stehen wir. Da sind wir. Und von da aus geht es nicht weiter, ausser vielleicht mit dem Verbluten.

Sonntag, 3. April 2005, 19:57, von donalphons | |comment

 
Immerhin gibt es eine Popkultur, die diese Gesellschaft weitgehend durchdringt. Das war mal anders: Ärzte hörende, Carhartt tragende vegetarische CDU-Wähler z.B. gibt es durchaus. In meiner Jugendzeit hörten die Country & Western, Elvis oder deutsche Schlager (also Roland Kaiser, Udo Jürgens und Konsorten), interessierten sich einen Scheiß für Naturschutz oder gingen auf die Jagd. Die Popkultur war damals Sache der (jungen) Linken. Inzwischen ist sie allgegenwärtig und hat die früher einmal existierenden Millieugrenzen nivelliert, was mit einer Veridiotisierung des politischen Bewusstseins der Massen einherging. Ohne diese wären das Duchziehen der Reform-Zumutungen gar nicht denkbar, eine 70er-Jahre-Bevölkerung hätte das nicht mit sich machen lassen. Seriöse Historiker werden künftig sagen: Es gab eine Zeit vor der totalen Popkultur, und es gab eine Zeit der totalen Popkultur.

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Und alle werden später sagen: Ein Glück, dass wir damals nicht leben mussten.

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Kernmillieus
Die Kernmillieus der politischen Lager haben aber ihre eigene Pop- oder Subkultur. Die Skins ihr Outfit und ihre Nazirock-Mucke, der harte Kern der Korps und rechten Burschenschaften dürfte außer "Gaudeamus Igitut" igittegitt äh etcetera Wagner, Blechbläser, Marschmusik und vielleicht noch Oldtime Jazz der aktuellen Popmusik bevorzugen, und die Welt der golfspielenden, zu Pferderennen gehenden, Großwildjagden und Hochseeangeln betreibenden wirklichen Elite ist, so gesprochen, quasi eine ganz eigene "Popkultur". Die Popkultur, begonnen als revolutionäre Gegenkultur einer rebellischen Jugnd, ist zum Opium fürs Volk verkommen. Die Mächtigen nehmen dieses Opium nicht unbedingt selber.

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